Epischer Erzähler

Epischer Erzähler

Die epische Handlung wird durch eine Erzählinstanz vermittelt. Diese kann die Handlung aus verschiedenen Perspektiven zeigen: von einem allwissenden Standpunkt aus, aus der beschränkten Perspektive einer bestimmten Figur oder durch eine Art von Kameraperspektive. In vielen epischen Werken werden diese verschiedenen Erzählverhalten vermischt. Je nach Szene dominiert das eine oder das andere Verfahren …

Erzählverhalten

Geschichten werden erzählt. Zwischen den Lesenden und den Figuren steht in der Epik die Erzählinstanz, die das Geschehen vermittelt. Diese Erzählinstanz kann von den Autor/innen unterschiedlich gestaltet werden. Im Lauf der Literaturgeschichte haben sich drei unterschiedliche Formen etabliert, wie dies geschehen kann.

Auktoriales Erzählen

Autor/innen können die Handlung mit Hilfe einer allwissenden Erzählinstanz vermitteln. Die Perspektive, aus der diese das Geschehen beschreibt, nennt man auch den olympischen Standpunkt, weil sie von hier aus alles überblicken kann wie ein Gott. So verfügt sie etwa über Informationen zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der handelnden Figuren. Außerdem kann sie in jede Figur nach Belieben hineinsehen und deren Handlungsmotive oder Wünsche erkennen – selbst solche, die dieser vielleicht nicht bewusst sind. Schließlich kann sie das Geschehen und die Figuren kommentieren und bewerten. Auf diese Weise kann sie als Sprachrohr des Autor, der Autorin fungieren. Deshalb nennt man sie auktorial (lat. auctor = Autor). Trotz dieser möglichen Nähe zum Autor darf der auktoriale Erzähler nicht mit ihm gleichgesetzt werden. Es handelt sich um eine fiktive Figur. Als solche kann sie auch mehr oder weniger in die berichtete Handlung verwickelt sein.

»In M…, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O…, eine Dame von vortrefflichem Ruf und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: dass sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten. Die Dame, die einen so sonderbaren, den Spott der Welt reizenden Schritt, beim Drang unabänderlicher Umstände, mit solcher Sicherheit tat, war die Tochter des Herrn von G…, Kommandanten der Zitadelle bei M…« (Heinrich von Kleist: Marquise von O…)

Wichtig ist: Der allwissende Erzähler kann zwar im Prinzip alles wissen, braucht aber sein Wissen nicht vollständig mitzuteilen, ja mehr noch, er kann an bestimmten Stellen Unwissenheit vorschützen oder den Lesenden Deutungsvarianten vorschlagen.

 

Personales Erzählen

Statt von einem gottähnlichen Standpunkt aus kann das epische Geschehen auch aus der Perspektive einer der handelnden Figuren beschrieben werden. Diese nennt man die Perspektivenfigur. Der Erzähler kennt dann nicht mehr das Innenleben verschiedener Figuren oder die zukünftigen bzw. vergangenen Ereignisse. Sein Horizont ist entsprechend beschränkt: Er weiß immer nur so viel, wie seine Perspektivenfigur weiß. Er ist dort, wo sie ist. Er sieht die Welt mit ihren Augen.

Personales Erzählen muss aber nicht in der 1. Person geschehen. Daneben ist es möglich, dass der Erzähler die Perspektive der Figur einnimmt, dabei aber von ihr gleichwohl in der 3. Person spricht. Bei der Wiedergabe der Innensicht bedient er sich dabei der erlebten Rede.

»Es war schon heller Tag, als Effi am andern Morgen erwachte. Sie hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Wo war sie? Richtig, in Kessin, im Hause des Landrats von Innstetten, und sie war seine Frau, Baronin Innstetten. Und sich aufrichtend, sah sie sich neugierig um; am Abend vorher war sie zu müde gewesen, um alles, was sie da halb fremdartig, halb altmodisch umgab, genauer in Augenschein zu nehmen. […] Da, zwischen den zwei Fenstern, stand der schmale, bis hoch hinaufreichende Trumeau, während rechts daneben, und schon an der Flurwand hin, der große schwarze Kachelofen aufragte, der noch (soviel hatte sie schon am Abend vorher bemerkt) nach alter Sitte von außen her geheizt wurde. Sie fühlte jetzt, wie seine Wärme herüberströmte. Wie schön es doch war, im eigenen Hause zu sein; so viel Behagen hatte sie während der ganzen Reise nicht empfunden, nicht einmal in Sorrent. Aber wo war Innstetten? Alles still um sie her, niemand da. Sie hörte nur den Ticktackschlag einer kleinen Pendüle und dann und wann einen dumpfen Ton im Ofen, woraus sie schloß, dass vom Flur her ein paar neue Scheite nachgeschoben werden. Allmählich entsann sie sich auch, dass Geert am Abend vorher von einer elektrischen Klingel gesprochen hatte«. (Theodor Fontane: Effi Briest)

Das personale Erzählverhalten muss nicht unbedingt auf eine Perspektivenfigur beschränkt sein, sondern kann sich auf mehrere Figuren erstrecken. Insbesondere nach einem Schauplatzwechsel bzw. einem Zeitsprungs kann der Fokus von der einen Figur auf die andere übergehen.

Neutrales Erzählen

Das neutrale Erzählverhalten beschränkt sich darauf, die Handlung mehr oder weniger unvermittelt wiederzugeben. Wir haben also weder eine übergeordnete Instanz, die das Geschehen für uns aufbereitet, kommentiert und wertet (auktorial), noch schlüpfen wir in die Haut einer Figur, aus deren Perspektive wir die Handlung durchleben (personal). Stattdessen sehen und hören wir nur, was eine Filmkamera zeigen würde. Wir haben also keine Innensicht in die Figuren, weder die Allwissenheit eines Erzählers noch das beschränkte Wissen einer Figur, sondern sehen die Handlung in konsequenter Außensicht. Im Vordergrund steht dabei die Wiedergabe von Gesprächen in direkter Rede, die szenische, d.h. zeigeeckende Darstellung sowie die Beschreibung. In diesem Verzicht auf Innensicht und subjektive Kommentare erscheint das neutrale Erzählverhalten gleichsam objektiv. In Wahrheit können Autor/innen unsere Wahrnehmung natürlich auch mit dieser Kamerasicht manipulieren, indem sie gewisse Dinge zeigen und andere ausblenden.

»Da gingen die vier vor die Tür und ihre Zigaretten waren vier Punkte in der Nacht. Der eine hatte dicke umwickelte Füße. Er nahm ein Stück Holz aus seinem Sack. Ein Esel, sagte er, ich habe sieben Monate daran geschnitzt. Für das Kind. Das sagte er und gab es dem Mann. Was ist mit den Füßen?, fragte der Mann. Wasser, sagte der Eselschnitzer, vom Hunger. Und der andere, der Dritte?, fragte der Mann und befühlte im Dunkeln den Esel. Der Dritte zitterte in seiner Uniform: Oh, nichts, wisperte er, das sind nur die Nerven. Man hat eben zu viel Angst gehabt. Dann traten sie die Zigaretten aus und gingen wieder hinein. Sie hoben die Füße hoch und sahen auf das kleine schlafende Gesicht. Der Zitternde nahm aus seinem Pappkarton zwei gelbe Bonbons und sagte dazu: Für die Frau sind die. Die Frau machte die blassen blauen Augen weit auf, als sie die drei Dunklen über das Kind gebeugt sah.« (Wolfgang Borchert: Die drei dunklen Könige, 1946)

Wichtig: In vielen Texten dominiert zwar ein bestimmtes Erzählverhalten, wird aber nicht konsequent durchgehalten. Vielmehr kann dieses Erzählverhalten, wenn es die Wirkungsabsicht verlangt, in bestimmten Szenen fließend in ein anderes übergehen.

So etwa wird im oben zitierten Beispiel aus Borcherts Kurzgeschichte zwar zunächst neutral gesagt: »Die Frau machte die blassen blauen Augen weit auf, als sie die drei Dunklen über das Kind gebeugt sah.« Unmittelbar darauf aber klärt der Erzähler in auktorialer Weise: »Sie fürchtete sich.« Darüber hinaus kommen auch personale Elemente vor, wenn es zum Beispiel heißt: »Heiligenschein!, dachte er und er hatte keinen, dem er die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte.«

Erzählform

Autor/innen können die Hauptfigur ihre Geschichte in der ersten Person berichten lassen. Darüber hinaus kann die Figur aber auch in der dritten oder – sehr selten – in der zweiten angesprochen werden.

Ich-Erzählung

Personale Ich-Erzählung

Eine Ich-Erzählung ist in der Regel personal. Wir erfahren das Geschehen aus der Perspektive einer bestimmten Figur. Der Ich-Erzähler hat eine bestimmte Sicht auf das Geschehen. Neben seiner spezifischen Sichtweise erfahren wir seine Gedanken und Gefühle aus erster Hand.

Die Luft ist wie Champagner. In einer Stunde ist das Diner, das ›Dinner‹. Ich kann die Cissy nicht leiden. Um ihr Mäderl kümmert sie sich überhaupt nicht. Was zieh' ich an? Das blaue oder das schwarze? Heut' wär vielleicht das schwarze richtiger. Zu dekolletiert? Toilette de circonstance heißt es in den französischen Romanen. Jedesfalls muß ich berückend aussehen, wenn ich mit Dorsday rede. Nach dem Dinner, nonchalant. Seine Augen werden sich in meinen Ausschnitt bohren. Widerlicher Kerl. Ich hasse ihn. Alle Menschen hasse ich. (Arthur Schnitzler: Fräulein Else)

Auktoriale Ich-Erzählung

Auch ein auktorialer Erzähler kann in der Ich-Form auftreten. Er kann die Handlung aus der Distanz betrachten und aus seiner persönlichen Sicht kommentieren und bewerten. Dabei spielt es keine Rolle, ob er in das Geschehen verwickelt ist oder es nur als außenstehender Beobachter betrachtet.

Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so dass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung der Schule denn auch gewachsen bin. (Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull)

Personale und auktoriale Ich-Erzählung

Wie angedeutet kann das Erzählverhalten innerhalb eines Werkes changieren. Ein Ich-Erzähler kann eine Geschichte so erzählen, dass er seinen Standpunkt wechselt, je nachdem, ob er die Handlung aus der Distanz betrachtet oder selber darin involviert ist.

Erzählendes Ich

Der fiktive Ich-Erzähler gibt die Handlung im Rückblick wieder. Von dieser Warte aus überblickt er das Geschehen, kennt nicht nur die Vorgeschichte, sondern auch den weiteren Verlauf und kann die Handlungen, insbesondere seine eigenen, entsprechend einordnen und bewerten.

Erlebendes Ich

Derselbe Ich-Erzähler ist gleichzeitig als handelnde Figur in die Geschichte verstrickt. In der Wiedergabe dieser Handlung kann der Ich-Erzähler seinen distanzierten Standpunkt verlassen, um in das Geschehen einzutauchen, es noch einmal in seiner Haut zu erleben und wiederzugeben. Er ist dann im Moment gefangen und weiß in der Hitze des Gefechts nur das, was er damals wusste.

Im folgenden Ausschnitt aus einer Novelle sind die Passagen mit einem erzählenden Ich und einem erlebenden Ich eng miteinander verschränkt:

»Und dann saß sie in der Werkstatt, auf dem Hocker, und als sie aufstand und mich küsste, konnte ich nicht warten, sondern sank auf meine Knie, schob meinen Kopf unter ihr Kleid und dann ihren Körper hinauf, zog ihre Unterhose runter und presste mein Gesicht zwischen ihre Beine. So verharrte ich lange, ihr Kleid über mir, ich spürte ihre Hand durch den Stoff auf meinem Kopf. Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe, neue, fremde Gedanken, glaube ich. Wir gingen in dieser Nacht nicht hinaus, ich trug sie zur Werkbank, sie war so leicht, so leicht, ich setzte sie neben die Schraubzwinge, und sie nahm mich Zentimeter für Zentimeter, und es war sie, die psst sagte, nicht ich. Aber sie schmiss einen Topf Rostfarbe von der Werkbank, er war offen, ein orangefarbener Fleck breitete sich auf dem Boden aus. Ich habe mich ein bisschen geschämt hinterher, das gebe ich zu. Ich war so außer mir, und ist es nicht oft so, dass wir auf die Momente, die uns besonders glücklich machen, besonders ungern zurückblicken, weil wir uns nicht erkennen können? Was wird dein Vater sagen, fragte ich, und das war eine dumme Frage, ich weiß, aber nach solchen Momenten brauchen wir die Dummheit, um uns zu retten. Da ich jetzt sehr offen bin, mich entschieden habe, absolut offen zu sein, muss ich noch ergänzen, dass es sein kann, dass ich, als Vera dort mit immer noch geschlossenen Augen auf der Werkbank saß, dass ich gedacht habe, das kannst du nicht kriegen von deiner fülligen Flavia, deiner dicken Flavia, musste es inzwischen heißen, denn sie hatte zugenommen, wenn ich das richtig sah. Es ist billig, so zu denken, ich weiß.« (Dirk Kurbjuweit: Zweier ohne)

Er-/Sie-Erzählung

Eine Er-/Sie-Erzählung kann in allen drei Erzählverhalten gestaltet sein. Meist kommen die drei Erzählverhalten nicht in Reinform vor; vielmehr dominiert ein einzelnes Erzählverhalten meist bestimmte Passagen, um danach in den Hintergrund zu treten.

Auktoriale Er-/Sie-Erzählung

Die auktoriale Er-/Sie-Erzählung ist gewissermaßen der Normalfall des epischen Erzählens. Die auktoriale Erzählinstanz schiebt sich zwischen die Lesenden und die Figuren und berichtet über sie in der dritten Person. Auf diese Weise kann sie einerseits von den Handlungen der Hauptfigur erzählen, andererseits kann sie von ihrem olympischen Standort nach Bedarf Hintergrundinformationen sowie Wertungen einstreuen.

Im folgenden Ausschnitt wird in der dritten Person der Protagonisten, ein Pferdehändler, eingeführt; darüber hinaus gibt die Erzählinstanz zahlreiche Informationen zur Vorgeschichte preis, macht Vorausdeutungen und gibt Wertungen ab.

An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder. (Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas)

Personale Er-/Sie-Erzählung

Die Erzählinstanz ist hier gewissermaßen in der Hauptfigur versteckt. Wie eine Helmkamera zeichnet sie alle Bewegungen der Hauptfigur auf, tut dies aber in der dritten Person. Im folgenden Romanausschnitt schildert der Autor die Metropole Wien – allerdings nicht aus seiner eigenen Sicht, sondern aus der Sicht eines Jugendlichen aus der Provinz, der zum ersten Mal in einer Großstadt ist.

Als der Zug schließlich mit nur zweistündiger Verspätung in den Wiener Westbahnhof eingefahren war und Franz aus der Bahnhofshalle ins grelle Mittagslicht hinaustrat, war seine kleine Melancholie längst wieder verflogen. Stattdessen wurde ihm ein bisschen schlecht und er musste sich am nächsten Gaslaternenmast festhalten. Als Erstes gleich einmal vor allen Leuten umkippen, da muss ma sich ja genieren, dachte er wütend. […] Als er die Augen wieder öffnete, brach ein kurzer, erschrockener Lacher aus ihm heraus. Es war überwältigend. Die Stadt brodelte wie der Gemüsetopf auf Mutters Herd. Alles war in ununterbrochener Bewegung, selbst die Mauern und die Strassen schienen zu leben, atmeten, wölbten sich. Es war, als könnte man das Ächzen der Pflastersteine und das Knirschen der Ziegel hören.  Überhaupt der Lärm: Ein unaufhörliches Brausen lag in der Luft, ein unfassbares Durcheinander von Tönen, Klängen und Rhythmen, die sich ablösten, ineinadnder flossen, sich gegenseitig übertönten, überschrieen, überbrüllten. […] Ja, dachte Franz benommen, das hier ist etwas anderes. Etwas völlig und ganz anderes. Und in diesem Moment nahm er den Gestank wahr. (Robert Seethaler: Der Trafikant)

Neutrale Er-/Sie-Erzählung

Wenn neutral erzählt wird, geschieht dies meistens in der Er-/Sie-Form. Eine Ich-Erzählung, die auf Innensicht verzichtet und die äußeren Geschehnisse objektiv wiedergibt, ist kaum denkbar. Der folgende Romanauszug zeigt das Geschehen ohne sichtbare Vermittlung, der Protagonist Humboldt steht zwar im Zentrum, von seinen Gefühlen erfahren wir indessen nur durch seine Aussagen und seine Handlungen, die ihn indirekt charakterisieren.

Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach dem Sextanten.
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.
Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zu einer Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. Mit einer schnellen Bewegung packte er den Affen, der gerade versucht hatte, ihm die Schuhe zu öffnen, und steckte ihn in den Käfig. Der Kleine schrie, schnappte nach ihm, streckte die Zunge heraus, machte große Ohren und zeigte ihm sein Hinterteil. Und wenn er sich nicht irre, sagte Humboldt, habe jeder auf diesem Boot Arbeit genug! (Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt)

Du-Erzählung

Die Du-Form kommt in der Literatur extrem selten vor. Dabei wird die Hauptfigur in der zweiten Person angesprochen. Gleichzeitig fühlt sich damit natürlich auch der Leser, die Leserin persönlich adressiert. Diese Ausgangslage ist eigentlich reizvoll, wurde und wird aber in der literarischen Praxis nur selten verwirklicht. Im folgenden Romanausschnitt gibt die fiktive Erzählerin jene Passagen aus dem Leben ihrer Hauptfigur in der du-Form wieder, die sich nicht direkt aus ihren Recherchen durch Dokumente belegen lassen:

Wien ist nich mehr Wien, sagte dein Vater, du musst schleunigst aus dem Land, und du bist ihm in einem Lokal am Gürtel gegenübergesessen, an dem verregneten Herbsttag, als er vor dem Haus in der Margaretenstraße  auf dich gewartet hatte, du hast gehört, was er dir wieder und wieder erklärte, hast es nicht gehört, nicht hören wollen, und hast ihm beim Essen zugeschaut, ohne selbst einen Bissen hinunterzubringen. Glaub mir, du kannst nicht hierbleiben, beschwor er dich. Es ist alles arrangiert, und deine Mutter und ihr Mann, von dem du deinen Namen hattest, waren kaum eine Woche tot, an den Auspuffgasen erstickt, die sie in ihr Auto geriet hatten, an einem Waldweg am Stadtrand, du hast ihren Abschiedsbrief in deiner Jacke gehabt, das Blatt Papier mit der Bitte, ihnen zu verzeihen, das du von Zeit zu Zeit, zerknüllt wie ein Taschentuch, abwesend hervorgeholt hast, und er hörte und hörte nicht auf zu reden. (Norbert Gstrein: Die englischen Jahre)

Erzählstandort

Unabhängig vom gewählten Erzählverhalten lassen Autor/innen ihre Erzählinstanz sich dem Geschehen mehr oder weniger mehr annähern. In der Regel wird eine personale Ich-Erzählung näher bei der Handlung sein als eine auktoriale, aber auch hier sind Mischformen möglich.

Nähe

Die Erzählinstanz gibt die Geschichte so detailliert wieder, dass die Lesenden den Eindruck haben, selber Teil des Geschehens zu sein. Die Handlung wird zeitdeckend oder gar zeitdehend geschildert, wir erfahren alle Einzelheiten des konkreten Vorgangs und erhalten das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein. Der Blick auf die Handlung ist gleichsam mikroskopisch. Einige Textgattungen fordern mehr erzählerische Nähe. So hat die Kurzgeschichte meist einen großen Detaillierungsgrad.

Wenn sie [die Fliegen auf dem Fliegenpapier] die seelische Erschöpfung überwunden haben und nach einer kleinen Weile den Kampf um ihr Leben wieder aufnehmen, sind sie bereits in einer ungünstigen Lage fixiert, und ihre Bewegungen werden unnatürlich. Dann liegen sie mit gestreckten Hinterbeinen auf den Ellbogen gestemmt und suchen sich zu heben. […] Immer aber ist der Feind bloß passiv und gewinnt bloß von ihren verzweifelten, verwirrten Augenblicken. Ein Nichts, ein Es zieht sie hinein. So langsam, daß man dem kaum zu folgen vermag, und meist mit einer jähen Beschleunigung am Ende, wenn der letzte innere Zusammenbruch über sie kommt. Sie lassen sich dann plötzlich fallen, nach vorne aufs Gesicht, über die Beine weg; oder seitlich, alle Beine von sich gestreckt; oft auch auf die Seite, mit den Beinen rückwärts rudernd. So liegen sie da. […] Und nur an der Seite des Leibs, in der Gegend des Beinansatzes, haben sie irgend ein ganz kleines, flimmerndes Organ, das lebt noch lange. Es geht auf und zu, man kann es ohne Vergrößerungsglas nicht bezeichnen, es sieht wie ein winziges Menschenauge aus, das sich unaufhörlich öffnet und schließt. (Robert Musil: Das Fliegenpapier)

Ferne

Das Geschehen wird mit einer gewissen Distanz betrachtet. Die Erzählinstanz beleuchtet das Geschehen vor dem Hintergrund übergeordneter Überlegungen. Es kommentiert die Handlungen, wertet sie und ordnet sie in größere Zusammenhänge ein. Zu den Textgattungen, in der erzählerische Distanz angebracht ist, gehören alle bildhaften Genres: die Fabel, die Parabel oder das Gleichnis. Auch Anekdoten, Märchen und Sagen sind meist eher allgemein gehalten und bleiben gegenüber dem Erzählten eher distanziert.

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften)

 

Erzählhaltung

Die Erzählinstanz steht den Figuren und ihren Interaktionen mit mehr oder weniger Sympathie gegenüber. Grundsätzlich kann ihre Haltung von einer unkritisch wohlwollenden über eine neutrale bzw. ambivalente bis zu einer spöttisch ablehnenden Einschätzung reichen. Diese Werturteile können explizit und direkt in auktorialen Kommentaren oder Charakterisierungen ausgesprochen werden. Sie können aber auch Teil einer indirekten Charakterisierung sein, die von den Lesenden erkannt werden muss.

Im folgenden Ausschnitt, dem Anfang aus Gottfried Kellers Novelle Die drei gerechten Kammmacher, werden die drei Protagonisten beschrieben. Darin zeigt sich, dass der Erzähler seinen Figuren mit deutlicher Ablehnung, ja Spott gegenübersteht. Die einleitende Charakterisierung wirft ein grelles Licht auf ihre Handlungen in der ganzen Novelle.

Die Leute von Seldwyla haben bewiesen, dass eine ganze Stadt von Ungerechten oder Leichtsinnigen zur Not fortbestehen kann im Wechsel der Zeiten und des Verkehrs; die drei Kammacher aber, dass nicht drei Gerechte lang unter einem Dache leben können, ohne sich in die Haare zu geraten. Es ist hier aber nicht die himmlische Gerechtigkeit gemeint oder die natürliche Gerechtigkeit des menschlichen Gewissens, sondern jene blutlose Gerechtigkeit, welche aus dem Vaterunser die Bitte gestrichen hat: Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern! weil sie keine Schulden macht und auch keine ausstehen hat; welche niemandem zuleid lebt, aber auch niemandem zu Gefallen, wohl arbeiten und erwerben, aber nichts ausgeben will und an der Arbeitstreue nur einen Nutzen, aber keine Freude findet. Solche Gerechte werfen keine Laternen ein, aber sie zünden auch keine an und kein Licht geht von ihnen aus […]. Wenn diese ein Unglück betrifft, so sind sie höchst verwundert und jammern, als ob sie am Spieße stäken, da sie doch niemandem was zuleid getan haben; denn sie betrachten die Welt als eine große wohlgesicherte Polizeianstalt, wo keiner eine Kontraventionsbuße zu fürchten braucht, wenn er vor seiner Türe fleißig kehrt, keine Blumentöpfe unverwahrt vor das Fenster stellt und kein Wasser aus demselben gießt.

Statt einer eindeutig positiven oder negativen Haltung der Hauptfigur gegenüber kann diese auch ambivalent bleiben. Dies ist etwa der Fall in der folgenden Einleitung von Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist:

An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. […] die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.

Die Erzählhaltung ist nicht mit dem Erzählverhalten zu verwechseln. So muss beispielsweise das neutrale Erzählverhalten nicht unbedingt mit einer neutralen Erzählhaltung gekoppelt sein. Auch eine neutrale Erzählinstanz kann durchaus suggestive Werturteile einfließen lassen in die scheinbar objektive Darstellung.

 

Sichtweise

Außensicht

Die Erzählinstanz hat in der Außensicht keinen Einblick in die Figuren. Was sie denken oder fühlen, bleibt ein Geheimnis. Man erzählt nur, was auch eine Kamera sehen bzw. wiedergeben würde. So versteht es sich, dass die Außensicht im neutralen Erzählverhalten dominant ist. Sie kann allerdings auch beim auktorialen und personalen Erzählen vorkommen.

Innensicht

Innensicht gibt es beim neutralen Erzählverhalten nicht. Sie ist dem auktorialen und personalen Erzählverhalten vorbehalten. Dabei erfahren wir Gedanken und Gefühle der Figuren, wissen zum Teil mehr als sie selbst.