Friede den Hütten! Krieg den Palästen!
Georg Büchner: »Der Hessische Landbote« (Pamphlet, 1834)
Als Vormärz bzw. Junges Deutschland bezeichnet man eine lose Gruppe politischer Autorinnen und Autoren, die, inspiriert von der Julirevolution in Frankreich, zwischen 1830 und 1848 publizistisch aktiv sind. Trotz verschärfter Zensurmaßnahmen im Deutschen Bund setzen sie sich für einen liberalen Nationalstaat, demokratische Freiheitsrechte und die Abschaffung althergebrachter moralischer, religiöser Vorstellungen ein. Somit stehen sie im Gegensatz zur unpolitischen Biedermeier-Literatur.
Epochenbezeichnung
Bekannt wird der Begriff 1834 durch den liberalen Germanisten Ludolf Wienbarg, der in seiner Antrittsvorlesung damit seine Studierenden anspricht:
Dir, junges Deutschland, widme ich diese Reden, nicht dem alten.
Seine Berühmtheit verdankt die Bezeichnung aber dem deutschen Bundestag, der um 1836 ein Publikationsverbot ausspricht:
Sämmtliche deutschen Regierungen übernehmen die Verpflichtung, gegen die Verfasser, Verleger, Drucker und Verbreiter der Schriften aus der unter der Bezeichnung »das junge Deutschland« oder »die junge Literatur« bekannten literarischen Schule, zu welcher namentlich Heinr. Heine. Carl Gutzkow, Heinr. Laube, Ludolph Wienbarg und Theodor Mundt gehören, die Straf- und Polizei-Gesetze ihres Landes, so wie die gegen den Mißbrauch der Presse bestehenden Vorschriften, nach ihrer vollen Strenge in Anwendung zu bringen, auch die Verbreitung dieser Schriften, sey es durch den Buchhandel, durch Leihbibliotheken oder auf sonstige Weise, mit allen ihnen gesetzlich zu Gebot stehenden Mitteln zu verhindern.
Pikanterweise existierte eine derartige »Schule« nicht. Die aufgezählten und weitere unabhängigen Autoren verband lediglich eine gemeinsame politische Stossrichtung. – Ein Synonym für die Epoche ist »Vormärz«; mit diesem Begriff wird die Epoche als Vorstufe der Revolution im März 1848 definiert.
Zeitgeschichte
Im Deutschen Bund, den 35 deutschen Staaten und 4 Städten unter der Führung Österreichs, werden nach dem sogenannten System Metternich die Freiheitsrechte unterdrückt und alle liberalen Regungen im Keim erstickt. Unter der Regie des österreichischen Kanzlers Metternich kommt es 1819 zu den Karlsbader Beschlüssen, die eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Überwachung der Universitäten und eine strenge Zensur zur Folge haben. Unruhen im Anschluss an die Julirevolution 1830 in Frankreich, insbesondere das Hambacher Fest 1832, haben weitere Verschärfungen dieser Maßnahmen zur Folge.
Während Industrie und Handel florieren (1. Eisenbahn Nürnberg-Fürth 1835), das Großbürgertum immer mehr Einfluss gewinnt, verschlimmert sich die Massenarmut des Proletariats (Pauperismus). So kommt es 1844 zum Weberaufstand in Schlesien, anfangs 1848 zum kommunistischen Manifest, kurz danach zur Februarrevolution in Frankreich. Diese führt im März zu Aufständen in mehreren deutschen Städten, die eine verfassungsgebende Versammlung in der Frankfurter Paulskirche erzwingen. Die Bildung eines vereinten, liberalen deutschen Nationalstaates scheitert aber am preußischen König Friedrich Wilhelm IV., der die Kaiserwürde nicht annehmen will. Die Nationalversammlung wird aufgelöst, die Aufstände bis 1849 gewaltsam niedergeschlagen.
Literaturepoche
Spät greifen die liberalen Bestrebungen auf die deutsche Literatur über. Obwohl sich im Anschluss an den Wiener Kongress eine oppositionelle deutsche Jugendbewegung bildet (Wartburgfest 1817), wird die literarische Opposition erst nach der französischen Julirevolution 1830 aktiv. Gegenstand und Zielpublikum der Literatur ist nun der Bürger, nicht mehr der Mensch (wie in der Klassik):
Die Schriftstellerei ist kein Spiel schöner Geister, kein unschuldiges Ergötzen, keine leichte Beschäftigung der Phantasie mehr [wie in der Romantik], sondern der Geist der Zeit […] ergreift des Schriftstellers Hand und schreibt im Buch des Lebens mit dem ehernen Griffel der Geschichte. (L. Wiebarg)
Gefordert ist also die persönliche Stellungnahme des Autors, sein politisches Engagement.
In politischen Gedichten und Dramen, vermehrt auch in journalistischen Texten und Streitschriften wird das ungerechte System kritisiert. So führt Georg Büchner in seinem »Hessischen Landboten« (1834) dem einfachen Volk die wahren Ausmaße seiner Unterdrückung durch den Landesherrn vor Augen. Wie die Autoren Heinrich Heine und Ludwig Börne muss Büchner danach ins Exil fliehen. Im folgenden Jahr verhängt der Deutsche Bundestag ein Publikationsverbot gegen Schriften, die es wagen:
die christliche Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören.
Genannt werden die Werke »der unter der Bezeichnung ›das junge Deutschland‹ oder ›die junge Literatur‹ bekannten literarischen Schule«. Durch dieses Verbot wird eine einheitliche »Schule« beschworen, die es so bis dahin nicht gibt.
Doch auch in der Folge gelingt es den Autoren nicht, eine geeinte Bewegung mit einem klaren Ziel zu bilden. Insbesondere die politische Lyrik bleibt in ihrem ihrer pathetischen Kritik häufig allgemein.
Während die meisten der »Tendenz«-Werke mit der Tagesaktualität, für die sie geschrieben werden, heute vergessen sind, haben zwei Autoren literarisch überdauert: Heinrich Heine und Georg Büchner. Beide operieren aus dem Exil, beide stehen der ›Bewegung‹ mehr oder weniger kritisch gegenüber.
Merkmale
Form
- Genres:
- politische Lyrik (mit eingängiger und volkstümlicher Sprache)
- Dramen
- journalistische Texte, Briefe
- Streitschriften
- Inhalt wichtiger als Form
- Zensurstrategien: indirekte Meinungsäußerung, Andeutungen, Vergleiche
- Satire: als direkte und indirekte Satire, indem das Kritisierte beim Namen genannt oder lediglich angedeutet wird
- Drama: ungegliederte Szenenabfolgen, Dialekt
Inhalt
- gesellschaftliche Realität: Herrschafts- und Besitzverhältnisse, Ausbeutung, Verfolgung
- Darstellung des Menschen in seinem Milieu: statt einer als utopisch erlebten Selbstverwirklichung in Freiheit (Klassik) wird die reale Fremdbestimmung durch die Umwelt dargestellt
- Eintreten für die Emanzipation sozial benachteiligter Gruppen (Frauen, Juden)
- Aufbegehren gegen Zensur
- heterogene Bestrebungen, einen vereinten liberalen Nationalstaat zu schaffen: kein einheitliches Programm, sondern oftmals Kämpfe untereinander
- Ziel der Kunst ist nicht die Form, sondern der Inhalt: Dichter muss eine politische »Tendenz« haben
Epochenübergang
Statt sich wie die Romantiker aus der widrigen Gegenwart in eine Gegenwelt zu sehnen, beginnen Schriftsteller und Publizistinnen diese Gegenwart zunehmend kritisch zu beurteilen. Die Autoren des Jungen Deutschland sehen sich als Erben jener Aufklärung, die in der Romantik als Entzauberung der Welt betrachtet wird.
Wie die Romantik versteht sich das Junge Deutschland als Gegenbewegung zur Klassik. Goethes Todestag 22.3.1832 ist ein Fanal, das von Heine prophezeite »Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird«. Anti-klassisch ist bei beiden Bewegungen die Abneigung gegen künstliche Harmonie, das Aufbrechen althergebrachter, fester Strukturen.
Merkwürdiges
Das 12. Kapitel von Heines »Reisebilder« (1832) beginnt mit der abgedruckten Textstelle. Dabei handelt es sich nicht, wie es zunächst aussieht, um das Resultat einer groß angelegte Zensur. Vielmehr ist es eine satirische Selbstzensur: Heine suggeriert, dass die Zensurbehörde zwar fast nichts mehr von seinem Text übrig lässt, dass ihr dabei aber das Wichtigste (ihre eigene Verspottung) doch noch immer entgeht, ja dass ihre eigene Diskreditierung erst selber hervorbringt.

Autor: Georg Büchner
1813-1837, Goddelau, Deutschland
Wichtige Werke
- »Der hessische Landbote« (Pamphlet, 1834)
- »Dantons Tod« (Drama, 1835)
- »Leonce und Lena« (Komödie, 1836)
- »Woyzeck« (Dramenfragment, 1836/37)
- »Lenz« (Erzählung, 1839)
Leben
Georg Büchner wird 1813 als Sohn eines Arztes in Hessen geboren. In Straßburg und Gießen studiert er Naturwissenschaften, Philosophie und Medizin. In seinem Pamphlet »Der Hessische Landbote« demonstriert er die sozialen Missstände im Herzogtum Hessen mit Zahlen aus dem Staatshaushalt. Aufgrund seiner politischen Tätigkeit wird er steckbrieflich gesucht und ins Exil gezwungen: erst nach Straßburg, danach ins liberale Zürich, wo er zum Privatdozenten für Vergleichende Anatomie berufen wird. Er selber zählt sich »keineswegs zu dem sogenannten Jungen Deutschland«:
Nur ein völliges Misskennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute glauben machen, dass durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei.
Er stirbt im Alter von 24 Jahren. Sein schmales Werk – drei Dramen und eine Erzählung – wird erst im 20. Jahrhundert entdeckt und zu einem Klassiker der Moderne.
Werk: »Dantons Tod« (Drama, 1835)
Georg Büchner beschreibt in seinem Hauptwerk »Dantons Tod« das Scheitern der französischen Revolution. Das Stück spielt zwischen dem 24. März und dem 5. April 1794 und findet seinen Höhepunkt in der sogenannten Schreckensherrschaft (la Terreur), in welcher die Revolution endet. Die Hauptperson ist Danton, welcher, anders als der Politiker Robespierre, gewaltlos eine französische Republik schaffen will. Das Stück endet damit, dass Danton und seine Anhänger zum Tode verurteilt werden.
Textstelle I
HERAULT. Die Revolution muss aufhören und die Republik muss anfangen. [1] In unsern Staatsgrundsätzen muss das Recht an die Stelle der Pflicht, das Wohlbefinden an die der Tugend und die Notwehr an die der Strafe treten. [2] Jeder muss sich gelten machen und seine Natur durchsetzen können. Er mag nun vernünftig oder unvernünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das geht den Staat nichts an. Wir Alle sind Narren es hat keiner das Recht einem Andern seine eigentümliche Narrheit aufzudringen. [...] Jeder muß in seiner Art genießen können, jedoch so, daß keiner auf Unkosten eines andern genießen oder ihn in seinem eigentümlichen Genuß stören darf. [3]
CAMILLE. [...] Danton, du wirst den Angriff im Konvent machen!
DANTON. Ich werde, du wirst, er wird. Wenn wir bis dahin noch leben! sagen die alten Weiber. Nach einer Stunde werden sechzig Minuten verflossen sein. Nicht wahr, mein Junge? [4]
- Der Wunsch nach einer neuen Regierungsform wird als Primärziel über die revolutionären Bewegungen gestellt. Die Revolution wird als überwunden dargestellt.
- Hier ist die Kernforderung des Jungen Deutschlands zu erkennen, der Wunsch nach einem liberalen Rechtssystem: Althergebrachte Werte wie »Pflicht« und »Tugend« will man ebenso ersetzen wie das System der »Strafe«.
- Büchner definiert hier die freie Selbstbestimmung des Menschen und ihre Grenzen. Dabei paraphrasiert er die entsprechende Formulierung aus der »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« 1789: »Die Freiheit besteht darin, dass man alles tun könne, was einem andern nicht schadet.«
- Danton erweist sich wie Büchner als Skeptiker in Bezug auf die Erfolgschancen der revolutionären Bestrebungen.
Textstelle II
CAMILLE. Ich sage euch, wenn sie nicht alles in hölzernen Kopien bekommen, verzettelt in Theatern, Konzerten und Kunstausstellungen, so haben sie weder Augen noch Ohren dafür. [1] Schnitzt einer eine Marionette, wo man den Strick hereinhängen sieht, an dem sie gezerrt wird und deren Gelenke bei jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen – welch ein Charakter, welche Konsequenz! [2] Nimmt einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich drei Akte hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheiratet oder sich totschießt – ein Ideal! [3] […] Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: die erbärmliche Wirklichkeit! – Sie vergessen ihren Herrgott über seinen schlechten Kopisten. Von der Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert, hören und sehen sie nichts. Sie gehen in‘s Theater, lesen Gedichte und Romane, schneiden den Fratzen darin die Gesichter nach und sagen zu Gottes Geschöpfen: wie gewöhnlich! [4]
- Büchner macht sich hier generell über die unrealistische Darstellung in den klassischen und anderen zeitgenössischen Werken lustig. Sein Realismus ist seiner Zeit allerdings voraus und nimmt die Epoche des Naturalismus vorweg.
- Mit den krachenden »fünffüßigen Jamben«, dem Blankvers, wird jenes Versmaß verspottet, das die Klassiker in ihren Dramen bevorzugen. Gegen solche stilisierte, abgehobene Sprache nimmt Büchner Stellung für einen lebendigen, natürlichen Ausdruck der Figuren.
- Ebenso abgelehnt wird eine Figurengestaltung, die sich wie in der Klassik an einem stereotypen »Ideal« statt an der psychologischen Wirklichkeit orientiert.
- Die Werke des Jungen Deutschland beleuchten »die erbärmliche Wirklichkeit«, vor der Klassik und Romantik die Augen verschließen. In der Unbändigkeit, mit der er hier die göttliche »Schöpfung« preist, knüpft Büchner an Motive des Sturm und Drang an.
Textstelle III
(Zwei Henker, an der Guillotine beschäftigt. […])
ZWEITER HENKER. He, holla! Bist bald fertig? [1]
ERSTER HENKER. Gleich, gleich! (Singt)
Scheint in meines Ellervaters Fenster –
Kerl, wo bleibst so lang bei de Menscher?
So! Die Jacke her! (Sie gehn singend ab)
Und wann ich hame geh,
Scheint der Mond so scheh [...] [2]LUCILE (tritt auf und setzt sich auf die Stufen der Guillotine). Ich setze mich auf deinen Schoß, du stiller Todesengel. (Sie singt)
Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,
Hat Gewalt vom höchsten Gott.
Du liebe Wiege, die du meinen Camille in Schlaf gelullt, ihn unter deinen Rosen erstickt hast. Du Totenglocke, die du ihn mit deiner süßen Zunge zu Grabe sangst. (Sie singt)
Viel Hunderttausend ungezählt,
Was nur unter die Sichel fällt. [3](Eine Patrouille tritt auf.)
EIN BÜRGER. He, wer da?
LUCILE (sinnend und wie einen Entschluß fassend, plötzlich). Es lebe der König! [4]
BÜRGER. Im Namen der Republik! (Sie wird von der Wache umringt und weggeführt.)
- Die beiden Henker, die die blutige Arbeit verrichten müssen, sind Männer aus dem einfachen Volk. Ihre Sprechweise mit den Dialektausdrücken wird realistisch wiedergegeben.
- Das Volkslied scheint an die Romantik zu gemahnen – durch die obszöne Pointe (»Menscher« sind Prostituierte) bricht Büchner die feierliche Szene jedoch parodistisch.
- Indem Lucile die Verse aus »Des Knaben Wunderhorn« singt, wird abermals ein Moment der Romantik aufgenommen.
- Lucile begeht hier einen Selbstmord mit Worten. In dem als Zustimmung (»Es lebe der König!«) getarnten Akt des Widerstands wird die Resignation der Vormärz-Bewegung nach der misslungenen Revolution 1848/49 vorweggenommen.