Sturm und Drang (1767-1785)

Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen.

Friedrich Schiller: »Die Räuber« (Tragödie, 1781)

Der Sturm und Drang war eine Jugendbewegung, die die Befreiung des Individuums (des »Original-Genies«) von staatlichen, religiösen und ästhetischen Schranken anstrebte. Dabei radikalisierte sie das Programm der Aufklärung, forderte aber gegen den kalten Rationalismus die Entfesselung der natürlichen Gefühle.

Epochenbezeichnung

Die Epoche ist nach dem gleichnamigen Theaterstück »Sturm und Drang« (1776) von Friedrich Maximilian Klinger benannt. Das von Shakespeares »Komödie der Irrungen« (»Comedy of Errors«) inspirierte Werk sollte ursprünglich »Der Wirrwarr« lauten. Das Stück selbst wurde von der Kritik zwiespältig aufgenommen und wäre heute wohl vergessen, wäre nicht sein Titel schon bald zum Schlachtruf der jungen Protestbewegung avanciert.

Zeitgeschichte

Die Epoche beginnt vier Jahre nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763), in den alle europäischen Großmächte involviert sind. Der Krieg fordert einen hohen Blutzoll bei Soldaten und Zivilbevölkerung. Außerdem sorgen Plünderungen und Zwangsrekrutierung für soziale Unrast. Indirekt schafft der Siebenjährige Krieg die Grundlagen für die beiden Revolten in den USA und Frankreich: Das unterlegene Frankreich unterstützt in der Folge die abtrünnigen Kolonien gegen das Mutterland England. Außerdem verschuldet sich der französische Staat infolge des Krieges so stark, dass die soziale Unzufriedenheit im Volk steigt, was schließlich 1789 zur Französischen Revolution führt.

Neben politischen und sozialen Spannungen sind wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Fortschritte zu verzeichnen. So setzt sich von England kommend allmählich die Dampfmaschine durch. Durch die Industrialisierung entstehen viele Fabriken. Die Fabrikbesitzer und mit ihnen das Bürgertum werden politisch gewichtiger und fordern immer lauter politische Mitsprache.

Literaturepoche

Die literarische Protestbewegung geht aus von männlichen Autoren, die zwischen 20 und 30 Jahre alt sind und meist aus einfachen Verhältnissen stammen. Ihr Ausgangspunkt ist die Begegnung des jungen Johann Wolfang Goethe mit dem Altertumsforscher Gottfried Herder in Strassburg. Inspiriert vom Rousseau‘schen Motto ‚Zurück zur Natur‘ entwerfen sie ein Ideal des Volkstümlichen, Natürlichen, Ursprünglichen.

Neben der Sammlung bestehender Volkslieder entsteht so eine neue Erlebnislyrik (Goethe), die das authentische Gefühl des Individuums wiedergibt. Poetologische Regeln, wie sie im Barock und in der Aufklärung herrschen, werden abgelehnt. Das »Original-Genie« soll seine Gedanken frei zu Papier bringen können und sich dabei allein von seinem Gefühl, von der Natur leiten lassen. 

Im Drama (Schiller, Goethe, Lenz) sind es die Konfrontation des Individuums mit den Zwängen der Gesellschaft, Ständekonflikte und gesellschaftliche Missstände, die in ihrer ganzen Schroffheit dargestellt werden. Auch hier werden neben der Ständeklausel dramatische Konventionen wie die drei Einheiten konsequent missachtet.

In der Epik schließlich ist Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers« (1774) herausragend, der sämtliche wichtige Themen auf den Punkt bringt: das Original-Genie, die Naturbegeisterung, eine überschwänglich-unmögliche Liebe, Werte wie Freundschaft und Familie sowie eine beißende Hofkritik. Im »Werther-Fieber«, das kurz danach in Deutschland ausbricht, zeigt sich, wie genau Goethe das Lebensgefühl seiner Generation getroffen hat. Entscheidend für den Erfolg der Sturm-und-Drang-Dichtung ist insbesondere der neue Ton, den sie anschlägt, die scheinbar unmittelbare Gefühlssprache.

Merkmale

Form

  • Genres:
    • Briefroman
    • Dramen
    • Erlebnislyrik
  • Verstoß gegen die Regeln der Poetik in allen Gattungen
  • unmittelbare, volkstümliche, z.T. auch derbe Sprache: Dialekt, Umgangssprache, Interjektionen (Ausrufezeichen), Wiederholungen
  • auf Schockwirkung zielender Einsatz rhetorischer Figuren: Hyperbel, Paradoxon, Ellipsen, Anapher, Parallelismus
  • Betonung der Subjektivität (Ich-Form)

Inhalt

  • Betonung des Gefühls gegenüber dem kalten Rationalismus: Freundschaft, Familie
  • Kritik an gesellschaftlichen Missständen, die die Folge der absolutistischen Diktatur sind
  • Idealisierung des einfachen ländlichen Lebens, Kritik an der degenerierten Lebensweise am Hof und der bürgerlichen Beschränktheit
  • das Original-Genie in der Entfaltung seiner natürlichen Kräfte
  • gegen die traditionellen, institutionalisierten Religionen und ihre Vertreter, für Pantheismus (Gott ist eins mit der Natur)
  • Gefühlsüberschwang und Pathos

Epochenübergang

Im Gegensatz zum fliessenden Übergang vom Barock zur Aufklärung beginnt der Sturm und Drang schockartig.

Inhaltlich setzen die Stürmer und Dränger das Programm der Aufklärung in weiten Teilen fort: Das Individuum und seine vollkommene Befreiung aus den Fesseln der Tradition und der Obrigkeit stehen im Zentrum. Im Gegensatz zur Aufklärung wird nicht die intellektuelle, sondern die emotionale Dimension des Menschen in den Mittelpunkt gestellt (emotio statt ratio). Die Sozialkritik wird radikalisiert, bleibt aber oft im Utopischen stehen und deshalb politisch folgenlos.

Regeln für die Literatur (Poetik) werden energisch abgelehnt. Dichten kann man nach Ansicht der Autoren nicht lernen, sondern es ist dem Genie angeboren.

Merkwürdiges

Die bekanntesten Vertreter der Epoche, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, lernen einander erst 1788, nach Ende der Epoche, persönlich kennen. Goethe schart in Strassburg und Frankfurt a.M., Schiller in Schwaben einen Dichterkreis um sich.

Bei seinen »Räubern« lässt sich Schiller von Goethes »Götz von Berlichingen« (1774) inspirieren. Der gegen weltliche und geistliche Macht revoltierende Götz sagt bei der Belagerung einem Unterhändler:

Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!

Mit der in Drucken lange zensurierten Stelle schuf Goethe »Deutschlands häufigstes Zitat«. Anstelle der anstössigen Wendung wird mitunter einfach auf das »Götz-Zitat« oder auf die Stelle verwiesen: »Götz von Berlichingen, III. Akt, vierte Szene!«

Darstellung von Götz von Berlichingen in Weisenheim am Sand

Autor: Friedrich Schiller

1759-1805, Marbach am Neckar, Württemberg

Wichtige Werke

  • »Die Räuber« (Tragödie, 1781)
  • »Kabale und Liebe« (Bürgerliches Trauerspiel, 1784)
  • »Don Carlos« (Tragödie, 1787)
  • »Die Jungfrau von Orleans« (Tragödie, 1801)
  • »Willhelm Tell« (Schauspiel, 1804)

Leben

Friedrich Schiller wird 1759 als Sohn eines Arztes und Offiziers geboren. Mit 14 Jahren schreibt er seine ersten Theaterstücke und studiert danach Recht und Medizin. 1780 verlässt er die Universität als Militärarzt, reist danach unerlaubt herum und flieht schlussendlich 1782 nach Mannheim. 1789 erhält er eine Geschichts-Professur in Jena. Danach arbeitet er vermehrt mit Goethe zusammen, übersiedelt nach Weimar und schreibt seine wichtigsten Dramen. 1805 stirbt er an einer Tuberkuloseerkrankung.

Werk: »Die Räuber« (Tragödie, 1781)

Die Tragödie behandelt einen tödlichen Bruderzwist. Karl Moor, der jüngere, nicht erbberechtigte Bruder, intrigiert so lange bei seinem Vater, bis dieser seinen geliebten Sohn Franz verstößt und enterbt. Enttäuscht gründet letzterer mit seinem Freund Spiegelberg eine Räuberbande. Karl vermeldet darauf den Tod seines Vaters (den er in Wahrheit einsperrt) und ernennt sich zum neuen Grafen. Bei seiner Rückkehr findet Franz den Vater sterbend vor. Seiner Rache entzieht sich Karl durch Selbstmord. Durch einen Eid an die Räuberbande gebunden, muss er sich gegen seine Geliebte Amalia entscheiden, die sich deshalb von ihm umbringen lässt. So liefert er sich der Justiz aus.

Textstelle I

KARL VON MOOR (legt das Buch weg). Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Seculum [1], wenn ich in meinem Plutarch [2] lese von großen Menschen. [3]

SPIEGELBERG (stellt ihm ein Glas hin und trinkt). Den Josephus musst du lesen.

MOOR. Der lohe Lichtfunke Prometheus’ ist ausgebrannt, dafür nimmt man jetzt die Flamme von Bärlappenmehl [4] – Theaterfeuer, das keine Pfeife Tabak anzündet. Da krabbeln sie nun, wie die Ratten auf der Keule des Hercules, und studieren sich das Mark aus dem Schädel, was das für ein Ding sei, das er in seinen Hoden geführt hat. [5]

  1. Der Protagonist findet die Vervielfachung dichterischer Produktion, wie sie sich im Adjektiv »tintenklecksend« zeigt, fragwürdig.
  2. Die Stürmer und Dränger orientieren sich nicht an der dekadenten französischen Kultur, sondern an ursprünglicheren Vorbildern, der Antike (z.B. Prometheus) und an Shakespeare.
  3. Das Menschenbild des Sturm und Drang ist geprägt vom »grossen Menschen«, vom Genie.
  4. Im »Lichtfunke[n] Prometheus'« scheint die Licht-Metapher auf. Aus den genialen Geistesblitzen früherer Denker sind die kümmerlichen Theaterblitze geworden (»Bärlappenmehl«).
  5. Hier wird die natürliche antike Tatkraft (»Keule« und »Hoden« des Hercules) gegen den fruchtlosen Intellektualismus der Aufklärung ausgespielt (»studieren«)

Textstelle II

MOOR. Diese Erde so herrlich. […] Und ich so häßlich auf dieser schönen Welt – und ich ein Ungeheuer auf dieser herrlichen Erde.

GRIMM. O weh, o weh!

MOOR. Meine Unschuld! meine Unschuld! [1] – Seht! es ist Alles hinausgegangen, sich im friedlichen Strahl des Frühlings zu sonnen [2] – Warum ich allein die Hölle saugen aus den Freuden des Himmels? – Daß Alles so glücklich ist, durch den Geist des Friedens Alles so verschwistert! – Die ganze Welt eine Familie [3] und ein Vater dort oben [4] – Mein Vater nicht [5] – ich allein der Verstoßene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen [6] – mir nicht der süße Name Kind – nimmer mir der Geliebten schmachtender Blick [7] – nimmer, nimmer des Busenfreundes Umarmung [8]. (Wild zurückfahrend.) Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt!

  1. Antithesen prägen den Stil (»herrlich« vs. »hässlich«, »Ungeheuer« vs. »Unschuld«) ebenso wie Ellipsen, Ausrufe und Wiederholungen.
  2. Die Natur wird als Quelle der Kraft, des Friedens und des Glücks dargestellt.
  3. Es wird die sozialromantische Utopie von weltumspannender Geschwisterlichkeit beschworen: Die harmonische Familie ist dabei das Modell für die ganze Menschheit.
  4. Die Vorstellung eines liebenden Gottes ist präsent – der Zugang zu ihm ist ein unmittelbarer, nicht durch institutionalisierte Kirchenvertreter vermittelter.
  5. Die Auflehnung gegen die Väter-Generation blitzt auf.
  6. Die Einsamkeit des Genies erscheint hier in negativer Selbstdarstellung als »Ungeheuer« und »Verstoßener«.
  7. Die unerfüllte, »schmachtende« Liebe ist eines der literarisch wirkungsträchtigsten Themen der Epoche.
  8. Ein anderes wichtiges Thema ist die Freundschaft, die über allem steht.

Textstelle III

PATER. Daß ein Bösewicht noch so stolz sein kann! [1]

MOOR. Nicht genug – Jetzt will er stolz reden. [2] Geh hin und sage dem hochlöblichen Gericht, das über Leben und Tod würfelt [3] – Ich bin kein Dieb, der sich mit Schlaf und Mitternacht verschwört und auf der Leiter groß und herrisch thut – Was ich gethan habe, werd' ich ohne Zweifel einmal im Schuldbuch des Himmels lesen; aber mit seinen erbärmlichen Verwesern will ich kein Wort mehr verlieren. [4] Sag' ihnen, mein Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe. [5] (Er kehrt ihm den Rücken zu.) […]

PATER. Wie heißt der Teufel, der aus ihm spricht? [6] – Ja freilich, freilich ist es so – der Kerl macht mich wirbeln. [7]

  1. Im Satz zeigt sich die Ablehnung der Protestbewegung durch Kirche und Staat (»Bösewicht«, »Teufel«). So erhält Schiller 1782 wegen einer anstößigen Stelle in den »Räubern« Publikationsverbot und muss aus Stuttgart fliehen.
  2. Der Stil in Dramatik, Lyrik und Epik ist direkt, pathetisch, scheinbar regellos.
  3. Die staatliche Gerichtsbarkeit wird angeprangert, deren Tätigkeit als tödliches Würfelspiel dargestellt wird.
  4. Moor glaubt offenbar an Gottes Existenz, an das »Schuldbuch des Himmels«. Seine angeblichen »Verweser« aber, die Stellvertreter auf Erden, und ihre zweifelhaften Systeme (z.B. Ablasse) sind »erbärmlich«.
  5. Hier deutet sich die sozialkritische Haltung an, die aber in ihrer Radikalität ohne Bodenhaftung bleibt. Wie Moors Räuberbande bleibt auch die Sturm-und-Drang-Bewegung folgenlos für die gesellschaftliche Realität.
  6. Moor wird hier inspiriert von einem höheren Geist: Er spricht nicht selbst, es ist sein Genius, der aus ihm spricht.
  7. Hier zeigt sich die Wirkungsabsicht der Stürmer und Dränger: Sie wollen verwirren, schockieren, Geist und Seele aufrütteln.

Weitere Autoren

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)

Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792)

Johann Gottfried Herder (1744-1803)

Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831)

Weitere Werke

Friedrich Schiller: »Kabale und Liebe« (Bürgerliches Trauerspiel, 1784)

Johann Wolfgang von Goethe: »Prometheus« (Hymne, 1774)

Johann Wolfgang von Goethe: »Die Leiden des jungen Werthers« (Briefroman, 1774)

Jakob Michael Reinhold Lenz: »Die Soldaten« (Tragödie, 1776)

Friedrich Maximilian Klinger: »Sturm und Drang« (Komödie, 1776)