Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit.
Egon Erwin Kisch: »Der rasende Reporter« (Reportageband, 1925)
Die Neue Sachlichkeit ist eine literarische Strömung, die sich in den 1920er-Jahren nach der Ernüchterung des 1. Weltkriegs als Gegenbewegung zum Expressionismus formiert. Sie pflegt eine unbarmherzig objektive Darstellung der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit. Sentimentalität wird dabei als unmodern abgetan.
Epochenbezeichnung
»Neue Sachlichkeit« – so heißt die Ausstellung, die 1925 in der Kunsthalle Mannheim eröffnet wird. Deren Direktor, Gustav Friedrich Hartlaub, bezeichnet mit dem neuen Stilbegriff jene neue, nüchterne, realistische Darstellungsweise, die die pathetische Weltsicht des Expressionismus ablöst. In der Folge wird der Ausdruck auf die Literatur übertragen und schnell zu einem Kultbegriff.
Zeitgeschichte
Als sich die Niederlage des Deutschen Reiches und der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg abzeichnet, kommt es zur Novemberrevolution und zur Absetzung des Kaisers. So wird am 9. November 1918 in Weimar die erste deutsche Republik ausgerufen. Frauen erhalten das aktive und passive Stimmrecht. Doch die junge Demokratie hat es von Anfang an schwer. Zunächst kämpft sie gegen die Vorbehalte in der traditionalistischen Bevölkerung, die der Kaiserzeit nachtrauert. Um die aus dem Krieg erwachsenen Staatsschulden zu beseitigen und die Reparationszahlungen leisten zu können, wird außerdem die gedruckte Geldmenge weiter aufgestockt. So kommt es in den Nachkriegsjahren zur Hyperinflation, einer massiven Geldentwertung, die in den Jahren 1922 und 1923 ihren Höhepunkt erreicht.
Nach der Stabilisierung der Währung durch die Einführung der Rentenmark kann sich der Staat konsolidieren. Die Zeit der „Goldenen Zwanzigerjahre“ bricht an. In den roaring twenties steigt der allgemeine Lebensstandard, Kulturleben und Vergnügungsindustrie erleben vor allem in den Großstädten einen noch nie dagewesenen Aufschwung. Technische Neuerungen (Automobile, Tonfilm, Rundfunk) geben dem Leben ein neues Gesicht. Doch die Blütezeit ist nur von kurzer Dauer.
Der Börsenkrach 1929 (Schwarzer Freitag, 24. Oktober) und die darauf folgende Weltwirtschaftskrise setzt ihr ein jähes Ende. Mit der Arbeitslosigkeit steigt die politische Unzufriedenheit der Bevölkerung. Die Parteien am äußeren Rand des politischen Spektrums, die Kommunistische Partei und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, erhalten immer mehr Zuspruch. Durch eine konservative Allianz von Deutschnationalen und NSDAP verliert die Linke den Machtkampf, Adolf Hitler wird zum Reichskanzler ernannt. Der Weg zu einem demokratischen Staatsstreich ist frei.
Literaturepoche
Die desaströse Niederlage im 1. Weltkrieg setzt den Höhenflügen der expressionistischen und symbolistischen Kunst ein Ende und holt die Literaten und Künstlerinnen endgültig auf den Boden der Tatsachen zurück. So fordert der einstige Expressionist Paul Kornfeld 1924:
Nichts mehr von Krieg und Revolution und Welterlösung! Laßt uns bescheiden sein und uns anderen, kleinere Dingen zuwenden -: einen Menschen betrachten [...]
So widmen sich Literatur und Kunst vermehrt dem modernen Alltagsleben. Dabei knüpfen sie an naturalistische Techniken an, mischen die realistische Darstellungsweise aber mit einer nüchternen, ironischen, mitunter sarkastischen Perspektive. Insbesondere emotionale Vorgänge werden kühl-distanziert wiedergegeben, was nicht ohne Komik bleibt. Und wie der Mensch in der literarischen Darstellung objektiviert wird, wird die Literatur auf ihren Gebrauchswert reduziert. Der Romancier Alfred Döblin bringt dies 1929 auf den Punkt:
[M]an will überhaupt keine Dichtung, das ist eine überholte Sache, Kunst langweilt, man will Fakta und Fakta.
Eine Unzahl publizistischer Organe (z.B. „Die Weltbühne“) kämpft um die Gunst der Leserinnen und Leser. Gute Literatur ist dabei insbesondere Literatur, die sich verkauft. Kurt Tucholsky als unermüdlicher Essayist und Publizist macht sich dabei ebenso einen Namen wie Egon Erwin Kisch mit seinen Reportagen. Daneben etabliert sich die sogenannte Gebrauchslyrik. Die Gedichte von Mascha Kaléko, Erich Kästner, Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky werden nicht für die Ewigkeit geschrieben, sondern behandeln aktuelle Themen und sind so für ‚den sofortigen Verzehr‘ bestimmt.
In den großen Zeitromanen wird das moderne Leben in einem nüchternen, z.T. schnoddrigen Ton dargestellt. Durch Montagetechnik entsteht dabei der Eindruck, man sei unmittelbar dabei. So schneidet Alfred Döblin in seinem Roman »Berlin Alexanderplatz« unterschiedliche Textfetzen so zusammen, dass der ‚Soundtrack der Zeit‘ hörbar wird. Nicht mehr der Übermensch, sondern das Leben der einfachen Leute steht dabei im Zentrum. »Kleiner Mann, was nun?« von Ernst Fallada oder Irmgard Keuns »Das kunstseidene Mädchen« deuten dies schon im Titel an.
In der Dramatik schließlich ‚erfindet‘ Bertolt Brecht das Epische Theater. Die Dramen sollen durch gezielte Verfremdungen das Publikum zum Nachdenken und zum Handeln bringen. Im Übrigen ist das literarische Leben in der Weimarer Republik so reichhaltig, dass neben der Neuen Sachlichkeit eine Vielzahl von Formen entsteht. Das hereinbrechende Dritte Reich setzt dieser Blütezeit ein abruptes Ende.
Merkmale
Form
- Genres:
- Gebrauchslyrik
- journalistisches Schreiben
- Zeitroman
- episches Theater
- klare, verständliche Alltagssprache
- wenig rhetorische Mittel, lakonischer, schmuckloser Stil
- schnoddriger Ton: Ironie, Sarkasmus, Parodie
- nüchterner Reportagestil
- Verfremdungseffekte
- Einbezug moderner Medien (Varieté, Sportveranstaltung, Jazz)
- Montagetechnik
Inhalt
- Gegenimpuls zum Expressionismus: kühle Nüchternheit
- Gefühl für das Machbare, Bodenständige
- illusionslos nach dem verlorenen Krieg (Revolution, Welterlösung)
- exakte Darstellung der Alltagswelt: Leben der einfachen Leute, z.B. Angestellte, Frauen
- Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit: sozialpolitische Fragen
- Kritik an Autorität
Epochenübergang
Die Neue Sachlichkeit knüpft dort an, wo der Naturalismus aufgehört hat. Die antinaturalistischen Bewegungen des Symbolismus und des Expressionismus werden nun ihrerseits als überholt erklärt und zugunsten einer objektiven Wiedergabe der Wirklichkeit aufgegeben. An die Stelle des expressionistischen Pathos treten pragmatische Nüchternheit und eine kühle, distanzierte Darstellungsweise.
Die Motive werden alltäglicher, sachlicher und sind so mehr auf den Publikumsgeschmack ausgerichtet. Man will eine breitere Masse ansprechen als im Expressionismus und Symbolismus. Im Gegensatz zum Expressionismus, der auf die Lyrik fixiert ist, gibt es eine Vielzahl literarischer Formen, die z.T. fließend ins Journalistische übergehen.
Merkwürdiges
Um 1920 ist ein Geldschein in Deutschland weniger wert als das Papier, auf dem er gedruckt ist. Um den ersten Weltkrieg zu finanzieren, erhöht Deutschland ab 1914 seine gedruckte Geldmenge massiv. Durch die Staatsschulden, entstanden durch Reparationen nach dem verlorenen Krieg, wird diese Ausweitung auch nach dem Krieg nicht gestoppt, sondern noch gesteigert. Sie führt zu einer Hyperinflation.
So verkommt die deutsche Mark zum Spielgeld: Mit den wertlosen Bündeln bauen die Kinder hohe Türme auf der Straße. Die Kollekte in der Kirche wird mit einem Wäschekorb eingesammelt. Lohnverhandlungen finden wöchentlich statt, Bankbeamte dürfen ihren Arbeitsplatz nicht vor Geschäftsschluss verlassen – schließlich kennen sie die aktuellen Wechselkurse. Im November 1923 wird die Inflation durch die Währungsreform und die Einführung der Rentenmark gestoppt. Eine Rentenmark entspricht einer Billion Papiermark (in Zahlen: 100.000.000.000.000 Mark).
Autor: Kurt Tucholsky
1890-1935, Berlin, Deutschland
Wichtige Werke
- »Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte« (Erzählung, 1912)
- »Lerne lachen, ohne zu weinen« (Essays, 1931)
- »Schloss Gripsholm« (Roman, 1931)
Leben
Kurt Tucholsky wird 1890 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Berlin geboren. Er studiert Jura in Berlin und Genf. 1912 veröffentlicht er den Roman »Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte«. Nach dem Krieg arbeitet er als freier Journalist und Schriftsteller, bis er 1926 Mitherausgeber der Zeitschrift „Die Weltbühne“ wird. Nachdem er stark erkrankt, stirbt er am 19. Dezember 1935 an einer Überdosis Veronal. Er wird auf dem kleinen Friedhof in Mariefred in der Nähe des Schlosses Gripsholm beigesetzt.
Werk: »Schloss Gripsholm« (Roman, 1931)
Der Roman handelt vom Autor Kurt, der im Auftrag seines Verlegers Ernst Rowohlt eine leichtfüßige Liebesgeschichte schreiben soll. Dazu fährt er mit seiner Geliebten Lydia in den Sommerurlaub nach Schweden. In einem Fremdenzimmer im Schlosses Gripsholm unweit von Stockholm kommen die beiden Verliebten unter und verbringen unbeschwerte Sommertage. Zwischenzeitlich erhalten sie Besuch von Peters Freund Karlchen, danach von Lydias Freundin Billie, mit der es zu einem erotischen Abenteuer zu dritt kommt. Gestört wird die Idylle nur von der traurigen Geschichte eines kleinen Mädchens Ada, das in einem nahen Kinderheim von der Leiterin tyrannisiert wird. Kurt und Lydia beschließen, die Kleine bei ihrer Abreise mitzunehmen, damit sie zu ihrer Mutter nach Zürich zurückkehren kann.
Textstelle I
Lieber Herr Tucholsky,
Schönen Dank für Ihren Brief vom 2. Juni. Wir haben Ihren Wunsch notiert. [1] Für heute etwas andres. [2] Wie Sie wissen, habe ich in der letzten Zeit allerhand politische Bücher verlegt, mit denen Sie sich ja hinlänglich beschäftigt gaben. [3] Nun möchte ich doch aber wieder einmal die „schöne Literatur“ pflegen. Haben Sie gar nichts? Wie wäre es denn mit einer kleinen Liebesgeschichte? Überlegen Sie das mal! Das Buch soll nicht teuer werden, und ich drucke Ihnen für den Anfang zehntausend Stück. [4] Die befreundeten Sortimenter sagen mir jedes Mal auf meinen Reisen, wie gern die Leute so etwas lesen. [5] Wie ist es damit? Sie haben bei uns noch 46RM gut – wohin sollen wir Ihnen die überweisen? [6]
Mit den besten Grüssen Ihr (Riesenschnörkel) Ernst Rowohlt [7]
*
Lieber Herr Rowohlt,
Dank für Ihren Brief vom 8. 6. Ja, eine Liebesgeschichte ... lieber Meister, wie denken Sie sich das? In der heutigen Zeit Liebe? Lieben Sie? Wer liebt denn heute noch? [8] […] Schreibe ich den Leuten nicht ihren Wunschtraum (»Die Gräfin raffte ihre Silber-Robe, würdigte den Grafen keines Blickes und fiel die Schlosstreppe hinunter«),[] dann bleibt nur noch das Propplem über die Ehe als Zimmer-Gymnastik [9] […] Übrigens fahre ich nächste Woche in Urlaub.
Mit vielen schönen Grüßen Ihr Tucholsky
- Der fingierte Brief des Verlegers, der dem Roman vorangestellt wird, zeigt die Montagetechnik.
- Der Brief beginnt mit einem direkten Einstieg ohne ausschweifende Vorgeschichten.
- Die politische Zerrissenheit der Weimarer Republik und die entsprechend intensive publizistische Tätigkeit deuten sich an.
- Die Offenlegung der wirtschaftlichen Interessen hinter Liebesgeschichte entspricht der nüchternen Haltung der Neuen Sachlichkeit.
- Die Literatur wird auf Ihren Gebrauchswert festgelegt.
- Der Ausdruck »RM« (Rentenmark) zeigt die vergangene Inflation.
- Der Roman wurde real bei Ernst Rowohlt verlegt. Es ist also eine realistische, quasiauthentische Erzählanlage.
- Der moderne Zeitgeist der Neuen Sachlichkeit widerspricht einer Liebesgeschichte. Insbesondere sentimentaler Kitsch wird in der Neuen Sachlichkeit entschieden abgelehnt.
- Die altehrwürdige Institution der Ehe wird ihrer ideellen Bedeutung beraubt und materialistisch als »Zimmer-Gymnastik« gedeutet.
Textstelle II
»Wir wollen noch ein wenig spazieras«, sagte die Prinzessin. […] Wir gingen und machten einen weiten Umweg um das Kinderheim. »Gleich, wenn wir nach Hause kommen – aber gleich«, sagte die Prinzessin, »melden wir Zürich an. Wir müssen un müssen dem Kind da rauskriegen! Die Frau Adriani entbehrt nicht einer gewissen Charmanz!«[1] Billie pfiff leise vor sich hin. Ich starrte in eine dunkle Baumgruppe und las aus den Blättern ab: Ich hatte Billie haben wollen, ich fühlte, dass ich sie nicht bekommen würde, und jetzt hatte ich einen sittlichen Grund, sie niedriger zu stellen als Lydia. Billie hatte kein Herz. Hast du ihr Herz geliebt, du Lügner? Sie hat so lange Beine... Ja, aber sie hat kein Herz. [2]
Wir gingen langsam durch den Wald, die beiden unterhielten sich [3] – nun ruddelten sie. »Ruddeln«, das ist so ein Wort für: klatschen, über jemand herziehen. [4] Man konnte gar nicht folgen, so schnell ging es. Hopphopphopp ... [5] schade, dass man nicht dabeisein kann, wenn die andern über uns sprechen - man bekäme dann einigermaßen die richtige Meinung von sich. Denn niemand glaubt, dass es möglich sei, so unfeierlich, so schnell, so gleichgültig-nichtachtend Etiketten auf Menschenflaschen zu kleben, wie es doch überall geschieht. Auf die andern vielleicht – aber auf uns selber? [6]
Billie: »...hat er ihr versprochen, und wie es soweit war, nichts«. – »Ihre Dummheit«, sagte Lydia. »Bei Empfang: die Ware – das Geld, wie mein Papa immer sagt. Vertrauen! Vertrauen! Es gibt doch nur eine Sicherheit: Fußangeln. Wie?« [7]
- Die direkte Rede der Protagonistin Lydia wird authentisch wiedergegeben, mit allen absichtlich eingestreuten Grammatikfehlern und Dialektwörtern.
- Die Offenheit, mit der der Ich-Erzähler seine erotischen Rechnungsspiele offenlegt, zeigt die nüchtern-distanzierte Darstellungsweise der Neuen Sachlichkeit.
- Eine Alltagssituation wird beschrieben.
- Der Berliner Mode-Ausdruck zeigt, wie sehr der Zeitgeist in das Werk einfließt.
- Tucholsky spürt auch in scheinbar belanglosen Alltagssituationen Komik auf.
- Ein nüchternes, illusionsloses Menschenbild ist typisch für die Generation nach dem Grossen Krieg.
- Selbst körperliche Nähe und Sexualität werden nach marktwirtschaftlichen Kriterien betrachtet; zwischenmenschliches »Vertrauen« scheint veraltet.
Textstelle III
»Der Laufmüller, der lag sich ümme inne Haaren mit die hohe Obrigkeit, [1] was zu diese Zeit den Landrat von der Decken war, Landrat Ludwig von der Decken. Und um ihn zu ägen, kaufte sich der Laufmüller einen alten räudigen Hund, und den nannte er Lurwich, und wenn nu Landrat von der Decken in Sicht kam, denn rief Laufmüller seinen Hund: Lurwich, hinteh mich! Und denn griente Laufmüller so finsch, und den Landrat ärgerte sich ... [2] un davon haben wi auch im Schohr 1918 keine Revolutschon giehabt. [3] Ja.« – »Lebt der Herr Müller noch?« fragte ich. – »Ach Gott, neien – he is all lang dod. Er hat sich giewünscht, er wollt an Weg begraben sein, mit dem Kopf grade an Weg.« – »Warum?« – »Dscha ... daß er den Mächens so lange als möchlich untere Röck ... [4] Der Zoll!« Der Zoll.
Europa zollte. Es betrat ein Mann den Raum, der fragte höflichst, ob wir ... und wir sagten: nein, wir hätten nicht. Und dann ging der Mann wieder weg. »Verstehst du das?« fragte Lydia. – »Ich verstehe es nicht«, sagte ich. »Es ist ein Gesellschaftsspiel und eine Religion, die Religion der Vaterländer. Auf dem Auge bin ich blind. Sieh mal – sie können das mit den Vaterländern doch nur machen, wenn sie Feinde haben und Grenzen. Sonst wüßte man nie, wo das eine anfängt und wo das andre aufhört. Na, und das ginge doch nicht, wie...?« [5] Die Prinzessin fand, daß es nicht ginge, und dann wurden wir auf die Fähre geschoben.
- Der plattdeutsche Dialekt vermittelt eine realistische Atmosphäre.
- Autoritäten werden kritisch und satirisch dargestellt.
- Die Revolution von 1918 wird thematisiert.
- Die satirische Darstellung macht auch vor dem Tod nicht Halt.
- Aufgrund der Erfahrung des Weltkriegs wendet man sich gegen Patriotismus.
Weitere Autoren
Erich Kästner (1899-1974)
Erich Kästner wird in Dresden geboren. Er leistet von 1917 bis zum Ende des 1. Weltkrieges Militärdienst, was ihn zum lebenslangen Antimilitaristen macht. Ab 1927 lebt er in Berlin, wo er in kurzer Abfolge die Gebrauchslyrik-Gedichtbände »Lärm im Spiegel«, »Ein Mann gibt Auskunft«, »Gesang zwischen den Stühlen« sowie den Roman »Fabian« publiziert und so zu einem der bekanntesten Schriftsteller der späten Weimarer Republik wird. Des Weiteren schreibt er für Tageszeitungen und Zeitschriften (unter anderem für »Die Weltbühne«). Während des 2. Weltkrieges bleibt er – als einer der wenigen Autoren der Neuen Sachlichkeit – in Deutschland, muss aber unter Pseudonymen schreiben, seine Bücher werden von den Nazis verbrannt. Er stirbt 1974 in München. Neben seinen satirischen Werken ist Kästner bekannt für seine international erfolgreichen Kinderbücher (»Emil und die Detektive«, »Das doppelte Lottchen« u.a.).
Alfred Döblin (1878-1957)
Döblin wächst in ärmlichen Verhältnissen in der Großstadt Berlin auf, nachdem sein Vater die Familie 1888 verließ. Er studiert Medizin und arbeitet zeitweise als Arzt, veröffentlicht ab 1910 aber erste Erzählungen. In seinem Essay »Berliner Programm« (1913) entwirft er wichtige theoretische Grundsätze für das Schreiben eines modernen Romans: Er fordert einen parataktischen ‚Kinostil’, der auf strikte lineare Erzählung und Inneneinsicht der Charaktere verzichtet. Diesen Anspruch setzt er in mehreren Romanen um, am konsequentesten in seinem Montageroman »Berlin Alexanderplatz«, welcher 1929 erscheint. Als Mitbegründer der »Gruppe 1925« gilt er in der Weimarer Republik als namhafter Repräsentant linksbürgerlicher Literatur. Als Jude verlässt Döblin 1933 Deutschland und lebt zuerst in Frankreich, ab 1940 in den USA. Nach Kriegsende kehrt er sofort nach Deutschland zurück, kann dort jedoch nicht mehr Fuß fassen und emigriert 1953, schon schwer krank, wieder nach Frankreich.
Bertolt Brecht (1898-1956)
Brecht verbringt seine Kindheit und Jugend in gutbürgerlichen Verhältnissen in Augsburg. Früh beginnt er, Gedichte und Lieder zu schreiben, 1918 verfasst er sein erstes Drama. Sein Studium in München bricht er 1921 ab, das Theaterstück »Trommeln in der Nacht« verhilft ihm 1922 zu erster Bekanntheit und 1924 zieht er nach Berlin. Dort kommt er zunehmend mit kommunistischen Theorien in Kontakt, die zahlreiche spätere Werke inspirieren, in welchen er sich meist mit gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzt. Seine »Dreigroschenoper«, uraufgeführt in 1928, wird ein riesiger Erfolg. Ungefähr zeitgleich beginnt Brecht seine Theorie des epischen Theaters zu entwickeln. 1933 geht er ins Exil, zuerst nach Dänemark, später in die Vereinigten Staaten.
Thomas Mann (1875-1955)
Mann entstammt einer alten Lübecker Patrizierfamilie, 1894 zieht er aber nach München, wo er – mit Unterbrechungen – bis 1933 lebt. 1901 veröffentlicht er seinen ersten Roman »Buddenbrooks. Verfall einer Familie«, für welchen er 1929 den Nobelpreis für Literatur erhält. Zunächst eher politisch konservativ, entwickelt Mann sich ab 1922 zu einem entschlossenen Verfechter der Weimarer Republik und ihrer demokratischen Werte. In seinem Roman »Der Zauberberg« (1924) analysiert er ironisch distanziert die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Gegen den Nationalsozialismus bezieht Mann ab 1930 eine warnende Position. 1933 verlässt er Deutschland und lebt im Exil in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten. Er stirbt 1955 in Kilchberg, ZH.
Irmgard Keun (1905-1982)
Keun wird in Berlin geboren, später zieht die Familie nach Köln. Dort beginnt Keun 1925 eine Schauspielausbildung, bricht diese aber 1929 ab und widmet sich der Schriftstellerei. Gefördert wird sie von Alfred Döblin und Kurt Tucholsky. Ihre ersten beiden Zeitromane, »Gilgi – eine von uns« (1931) und »Das kunstseidene Mädchen« (1932), machen sie zu einer berühmten Autorin der späten Weimarer Republik. 1936 verlässt sie Deutschland, 1940 kehrt sie jedoch zurück und lebt die nächsten fünf Jahre in der Illegalität. Nach dem Krieg schreibt sie weiterhin Romane und Erzählungen, kann aber nicht mehr an ihren früheren Erfolg anschließen und gerät zunehmend in Vergessenheit. Erst Ende der 1970er Jahre – kurz vor ihrem Tod – werden ihre Werke wiederentdeckt.
Mascha Kaléko (1907-1975)
Kaléko, gebürtig Golda Malka Aufen, wird als Tochter russisch-jüdischer Emigranten im heutigen Polen geboren. 1914 zieht die Familie nach Deutschland, ab 1918 leben sie in Berlin. Kaléko absolviert eine Bürolehre und schreibt ab 1929 Gedichte für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Die Gedichtbände »Das lyrische Stenogrammheft« (1933) und »Kleines Lesebuch für Große« (1935) stoßen mit ihrem heiter-melancholischen Ton auf großen Anklang, werden aber 1935 von den Nationalsozialisten verboten. 1938 emigriert Kaléko in die USA, wo sie unter anderem als Werbetexterin arbeitet und für die deutschsprachige Exilzeitung »Aufbau« schreibt. Ab 1960 lebt sie in Jerusalem. Sie gilt als einzige weibliche Dichterin der Neuen Sachlichkeit.
Marieluise Fleißer (1901-1974)
Fleißer wird im bayrischen Ingolstadt geboren, wo sie den Großteil ihres Lebens verbringen wird. Bei ihrem Studium der Theaterwissenschaften und Germanistik in München lernt sie Bertolt Brecht kennen. Ihr erstes Stück »Fegefeuer in Ingolstadt« wird 1926 in Berlin uraufgeführt. Ihr Schauspiel »Pioniere in Ingolstadt« löst 1929 – durch die gewagte Inszenierung von Brecht – einen Theaterskandal aus. Beide Stücke thematisieren mit einem sozialkritisch-ironischem Unterton die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Zudem betätigt sich Keun als Feuilletonistin für Tageszeitungen und Rundfunk. 1935 erhält sie von den Nazis Schreibverbot und aufgrund einer einengenden Ehe schreibt sie in den nächsten zwanzig Jahren nur wenig. In den 1960er Jahren wird sie wieder produktiver und ihre Werke – 30 Jahre lang nur wenig beachtet – werden wiederentdeckt.
Weitere Werke
Alfred Döblin: »Berlin Alexanderplatz« (Roman, 1929)
Döblins Großstadtroman trägt den Untertitel »Die Geschichte vom Franz Biberkopf«. Der namensgebende Protagonist, ein ehemaliger Zement- und Transportarbeiter, wird zu Beginn aus dem Gefängnis entlassen, wo er vier Jahre für Körperverletzung mit Todesfolge an seiner Geliebten absaß. Biberkopf versucht nun ein anständiges Leben zu führen, kommt aber während seinem Herumirren in den Berliner Straßen erneut auf die schiefe Bahn. Dies kostet ihm zuerst bei einem gescheiterten Fluchtversuch seinen rechten Arm, später landet er im Irrenhaus. Am Ende kann sich Biberkopf jedoch fangen und er beginnt ein neues Leben als Hilfsportier.
Erich Maria Remarque: »Im Westen nichts Neues« (Roman, 1928)
Der neunzehnjährige Ich-Erzähler Paul Bäumer ist 1917 an der Westfront des Ersten Weltkrieges stationiert. In Rückblicken erinnert er sich an seinen Lehrer, welcher ihn und seine Klassenkameraden von der Kriegsteilnahme überzeugt hatte, und an den harten Drill der militärischen Ausbildung. Im kriegserfahrenen Katczinsky findet er eine Identifikationsfigur. Im erbarmungslosen Stellungskrieg macht Paul grauenhafte Erfahrungen, welche ihn nachhaltig traumatisieren. Während eines Fronturlaubs in seiner Heimat erscheint diese ihm fremd und unzugänglich. Er kehrt zurück an die Front. Nach und nach fallen alle seine Kameraden dem Krieg zum Opfer. Zum Schluss berichtet ein anonymer Erzähler von Pauls Tod: er stirbt
an einem Tag, der so ruhig und so still war, daß der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.
Bertold Brecht: »Die Dreigroschenoper« (Drama, 1928)
Das »Stück mit Musik in einem Vorspiel und acht Bildern« wird 1928 in Berlin uraufgeführt, der Text stammt von Brecht, die Musik von dem Komponisten Kurt Weil (1900-1950). Im Mittelpunkt stehen der Verbrecher Macheath, genannt Mackie oder Mac, und der skrupellose Geschäftsmann Peachum, welcher in seinem Geschäft Bettler für ihre Tätigkeit ausstattet, damit diese das Mitleid der Londoner Bevölkerung erregen können. Als Mackie heimlich Polly, die Tochter Peachums, heiratet, beschließt Peachum ihn verhaften zu lassen. Mackie flieht, wird aber von der Prostituierten Jenny verraten und kommt ins Gefängnis, aus welchem er jedoch kurz darauf wieder entkommt. Auf Druck von Peachum lässt Mackies ehemaliger Freund, der Polizeichef Brown, Mackie erneut verhaften. Kurz vor seiner Hinrichtung wird Mackie schlussendlich aber von der Königin begnadigt und reich beschenkt.
Irmgard Keun: »Das kunstseidene Mädchen« (Roman, 1932)
Doris, die achtzehnjährige Ich-Erzählerin des Romans, stammt aus ärmlichen Verhältnissen, doch sie hat große Träume: Sie will nach Berlin ziehen und ein Leben »wie im Film« führen. Nach gescheiterten Anstellungen als Sekretärin, Statistin und Schauspielerin in ihrer namenlosen Heimatstadt flieht sie also in die Metropole. Dort ist sie, um zu überleben, auf verschiedene Männerbekanntschaften angewiesen. Eine dauerhafte Beziehung mit diesen Männern scheitert jedoch jedes Mal aus verschiedenen Gründen. Zum Schluss ist Doris immer noch alleine – ihr Traum vom Aufstieg in der Gesellschaft ist geplatzt.
Erich Kästner: »Fabian. Die Geschichte eines Moralisten« (Roman, 1932)
Der Großstadtroman handelt vom 32-jährigen Germanisten Dr. Jakob Fabian, einem ironisch-distanzierten Beobachter Berlins, zur Zeit der späten 1920er-Jahre und der beginnenden Weltwirtschaftskrise. Fabian wartet auf einen »Sieg der Anständigkeit«, ist aber zunehmend desillusioniert. Er verliert seinen Job als Werbetexter, lehnt aber verschiedene andere Stellenangebote (beispielsweise bei einer rechts stehenden Zeitung) ab, da er sie als unmoralisch betrachtet. Beim Versuch einen kleinen Jungen zu retten, ertrinkt Fabian am Ende des Romans in einem Fluss.
Hans Fallada: »Kleiner Mann, was nun?« (Roman, 1932)
Der Roman schildert das Schicksal des Buchhalters Johannes Pinneberg und seiner Frau Emma von 1930 bis 1932. Nachdem Pinneberg seine Stelle verliert, muss das junge Paar von Ducherow nach Berlin ziehen. Dort vermittelt Pinnebergs Mutter, eine Berliner Lebedame, ihm eine Stelle als Kleiderverkäufer. Durch die Geburt ihres ersten Kindes und der ständig größer werdende Druck im Kaufhaus gerät das Paar jedoch allmählich in finanzielle Not. Diese wird noch größer, als Johannes schlussendlich entlassen wird. Trotzdem hält das Paar an ihrer Liebe fest und versucht, das Beste aus der Situation zu machen.
Ödön von Horváth: »Geschichten aus dem Wiener Wald« (Drama, 1931)
Marianne, ein junges »Wiener Mädel«, soll auf Wunsch ihres Vaters den derben Fleischer Oskar heiraten. Sie verliebt sich jedoch in den Ganoven Alfred, worauf ihr Vater sie verstößt. Sie hat ein Kind mit Alfred, welches aber seiner Großmutter anvertraut wird. Da Alfred zu faul zum Arbeiten ist, muss Marianne als exotische Tänzerin in einem Varietétheater arbeiten. Dort wird sie eines Tages von ihrem Vater erkannt – es kommt zum Skandal. Kurz darauf kommt sie, aufgrund falscher Anschuldigungen, ins Gefängnis. Alfred wendet sich während ihrer Haft einer anderen Frau zu und ihr gemeinsames Kind stirbt, da es von Alfreds Großmutter vernachlässigt wurde. Nach ihrer Entlassung lässt sich Marianne deshalb resigniert doch noch mit Oskar verheiraten.