[E]rst so können wir hoffen, zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserem Auge aufwachsen zu lassen, die logisch sind, wie die Natur.
Wilhelm Bölsche: »Die naturwissenschaftliche Grundlage der Poesie« (Poetik, 1887)
Der Naturalismus ist eine literarische Protestbewegung zwischen 1880 und 1900 gegen den Fortschrittsoptimismus der Gründergeneration, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen des vierten Standes in den Mittelpunkt stellt. Nach dem Vorbild der Naturwissenschaften versucht sie die alltägliche Wirklichkeit präzis abzubilden, ohne dabei vor hässlichen Gegenständen (wie z.B. Armut, Alkohol, Wahnsinn, Krankheit) zurückzuschrecken.
Epochenbezeichnung
Die Bezeichnung führt zurück auf das lateinische natur, das eigentlich »Geburt« heißt. Der Begriff des literarischen Naturalismus wird 1880 vom französischen Schriftsteller Emile Zola zur Beschreibung seiner detail- oder eben naturgetreuen Romane eingeführt (»Le Roman expérimental«). In einem Interview mit dem Figaro gibt er an, den philosophischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Spezialbegriff auf die Literatur angewandt zu haben. Im deutschen Sprachraum wird der Begriff von der literarischen Protestbewegung enthusiastisch übernommen. Zu Beginn der 1890er-Jahre wird er von Arno Holz auf die berühmte wissenschaftliche Formel »Kunst = Natur - x« gebracht.
Zeitgeschichte
Das Deutsche Reich ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts außen- und innenpolitischen Belastungen ausgesetzt. Innenpolitisch bewirken die Fortschritte in den Naturwissenschaften und die Wandlung von der Agrar- zur Industriegesellschaft zwar ein enormes Wirtschaftswachstum. Damit verbunden sind aber Landflucht und Urbanisierung, die Metropolen wachsen explosionsartig an, das Angebot an Arbeit und Wohnraum kann mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten. Nachdem die sich organisierenden Massen der verelendenden Arbeiterschaft immer lauter soziale Verbesserungen fordern, verabschiedet der Deutsche Reichstag 1878 mit dem sog. »Sozialistengesetz« ein Verbot kommunistischer und sozialdemokratischer Parteien. Die soziale Frage bleibt jedoch weiter ungelöst.
Außenpolitisch macht die auf Ausgleich bedachte Realpolitik Bismarcks immer mehr einem ungestümen Imperialismus Platz. Wilhelm II., der Enkel des 1888 verstorbenen Kaisers, entlässt den »Lotsen« Bismarck und will das Deutsche Reich in der Folge zu einer Weltmacht formen. Das anbrechende wilhelminische Zeitalter ist geprägt durch Fortschrittsoptimismus, patriarchale Werte, Prüderie und repräsentativen Pomp.
Literaturepoche
Unsre Welt ist nicht mehr klassisch, / Unsre Welt ist nicht romantisch, / Unsere Welt ist nur modern.
Mit diesem programmatischen Kurzgedicht bringt Arno Holz den Bruch der Protestbewegung mit dem klassisch-romantischen Erbe auf den Punkt. Sowohl das Biedermeier wie der Poetische Realismus haben dieses Erbe hartnäckig zu bewahren versucht. Nun ist das Ideal angesichts der ungeheuren Umwälzungen in allen Lebensbereichen immer offensichtlicher nicht mehr aufrechtzuerhalten. Der Naturalismus erkennt die Zeichen der Zeit und macht sich das naturwissenschaftliche Weltbild zu eigen. Nicht mehr Goethe und Schiller sind nun seine Vorbilder, sondern Darwin und Marx. Wie ein »Experimentator« sollen Autorinnen und Autoren vorgehen: Sie müssen versuchen,
zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserem Auge aufwachsen zu lassen, die logisch sind wie die Natur“ (Wilhelm Bölsche).
Im Mittelpunkt ist dabei eine Gruppe, die bis jetzt in der Literatur immer ausgeklammert wurde: der vierte Stand, das Proletariat. Sein Leben und Leiden wird nun ebenso exakt wie sozialkritisch dargestellt. Entscheidend für das neue Menschenbild und seine literarische Gestaltung ist dabei der Milieu-Begriff. Eine Figur wird nicht mehr als freies, selbstbestimmtes Individuum verstanden, sondern als ein Wesen, das durch seine soziokulturelle Umgebung geprägt ist. Entsprechend viel Gewicht wird auf die präzise Beschreibung der Lebensräume und der menschlichen Umgebung gelegt. Als Maxime für diese Präzision formuliert Arno Holz die Formel »Kunst = Natur – x«. Bei einer unbeholfenen Kinderzeichnung ist dieses X naturgemäß sehr groß. Die Aufgabe der Künstler/innen ist es, das X, d.h. die Abweichung von der Realität, möglichst klein zu halten. Zu diesem Zweck erfasst man im sog. Sekundenstil auch die kleinsten Details.
Im Drama bedeutet dies, dass die Figuren nicht nur in ihrem Sozio- oder Dialekt sprechen, sondern dass ihre Aussagen mit allen paraverbalen Begleiterscheinungen gleichsam transkribiert werden. Dass die Wahrheit des Werks dabei wichtiger ist als dessen Schönheit, versteht sich von selbst. Eine kalkulierte Ästhetik des Hässlichen sorgt dafür, dass naturalistische Werke in der prüden Wilhelminischen Ära einiges Aufsehen erregen. Insbesondere die Dramen Gerhard Hauptmanns sind bahnbrechend. Schon mit seinem ersten Stück »Vor Sonnenaufgang« (1889) sorgt er mit der offenen Darstellung von Tabuthemen wie Sexualität und Alkoholismus für einen handfesten Theaterskandal. Auch sein Hauptwerk »Die Weber« (1893), das die Ausbeutung der Schlesischen Weber durch die Fabrikbesitzer schonungslos deutlich vor Augen führt, wird erst verboten und sorgt schließlich dafür, dass Wilhelm II. die Hofloge am Deutschen Theater kündigt.
Weniger folgenreich war das Programm des Naturalismus in der Lyrik. Nichts weniger als eine »Revolution der Lyrik« ist es, was Arno Holz anstrebt. So lässt er Metrum, Reim und viele weitere lyrische traditionelle Formelemente weg und ordnet die Zeilen an einer imaginären Mittelachse. Die entstehenden Gebilde sind aber nicht eigenständig genug, um die Zeit zu überdauern.
Merkmale
Form
- Genres:
- Sozialdramen
- Lyrik
- Sekundenstil: wirklichkeitskopierende Darstellung, die einen Ablauf mit allen Bewegungen und Nuancen zeitdeckend aufzeichnet
- Verwendung von Dialekt, Soziolekt und Idiolekt (individuelle Sprechweise), v.a. im Drama
- Wiedergabe des Sprachverhaltens der einzelnen Figuren: Umgangssprache, Stammeln, Stöhnen, Ausrufe, Satzfetzen
- Drama: ausführliche Regieanweisungen zur Schilderung des Milieus
- Lyrik: Verzicht auf traditionelle Mittel wie Reim und Metrum, Ausrichtung der Zeilen an Mittellinie
Inhalt
- moderne Alltagsrealität im Zentrum
- präzise Beschreibung des Milieus, der Lebens- und Arbeitsbedingungen
- ausführliche Schilderung des Verhaltens der Figuren und ihrer psychologischen Beweggründe
- Darstellung des Hässlichen: bewusste Provokation der auf Kitsch fixierten Wilhelminischen Kultur
- Drama: z.T. keine dramatischen Zuspitzungen
Epochenübergang
Der Naturalismus kann als Radikalisierung des Bürgerlichen Realismus gesehen werden. Die Spuren des Idealismus, die dieser noch trägt, werden getilgt und durch konsequenten Materialismus ersetzt. An die Stelle der subjektiven, »künstlerischen Wiedergabe des Lebens« tritt die wissenschaftliche Objektivität.
Während sich der Bürgerliche Realismus auf die Klasse der Bürger beschränkt, ja eine eigentliche »Verherrlichung des Bürgertums« (Theodor Fontane) betreibt, entdeckt der Naturalismus den ‚vierten Stand‘. Der Alltag und die Leiden der Arbeitenden werden nicht wertneutral oder positiv gezeigt. Mit ihrer Darstellung sind eine scharfe Kritik an den sozialen Lebensbedingungen und der Aufruf, etwas daran zu ändern, verbunden. Während der Bürgerliche Realismus die Missstände zwar bisweilen erkennt, sie aber nicht beim Namen nennt, werden diese beim Naturalismus zum Gegenstand der Literatur.
Der Bürgerliche Realismus schreibt das klassisch-romantische bzw. biedermeierliche Erbe fort. Dagegen bezieht sich der Naturalismus auf das Junge Deutschland sowie den Sturm und Drang.
Merkwürdiges
Vielleicht erleichtert es eine Anekdote, das wahre Bild von Kaiser Wilhelm II. zu konturieren. Als der Nord-Ostsee-Kanal 1895 unter seinem Namen eingeweiht werden sollte, wünschte der Kaiser, ein Schiff höchstselbst durch das Bauwerk zu steuern. Also baute man ein zweites Steuerrad derart in dem Schiff ein, dass ein Fachmann die wirkliche Arbeit tat, während Wilhelm nur glaubte, sie zu tun. Die Geschichte trifft es ziemlich genau: Der Wunsch des Kaisers war Befehl. Man kam ihm äußerlich nach, handelte aber tatsächlich am hohen Herrn vorbei.
Autor: Gerhart Hauptmann
1862-1946, Schlesien, Deutschland
Wichtige Werke
- »Der Biberpelz« (Komödie, 1880)
- »Die Weber« (Drama, 1893)
- »Bahnwärter Thiel« (Novelle, 1888)
- »Rose Bernd« (Drama, 1903)
Leben
Gerhart Hauptmann wird am 15. November 1862 geboren. Nach einer aus gesundheitlichen Gründen abgebrochenen Landwirtschaftslehre studiert er in Breslau und Dresden Kunst. 1884 zieht er nach Berlin, wo er mit der naturalistischen Bewegung in Kontakt kommt. Bereits mit seinen ersten Sozialdramen »Vor Sonnenaufgang« oder »Die Weber« erlangt er große Bekanntheit. Neben naturalistischen zeigt sein Werk nun auch neo-romantische Züge. 1912 wird er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. In der Weimarer Republik avanciert er zu einer Leitfigur des deutschen Literaturlebens, was er auch im Dritten Reich bleibt. Gerhart Hauptmann stirbt am 6. Juni 1946.
Werk: »Bahnwärter Thiel« (1888)
Thiel heiratet nach dem Tod seiner feinsinnigen ersten Frau Minna die grobe Bauernmagd Lene, damit sein Sohn Tobias wieder eine Mutter hat. Als Lene ihr eigenes Kind bekommt, behandelt sie Tobias immer schlechter. Eines Tages wird Tobias von einem Zug erfasst und stirbt. Für Thiel bricht die Welt zusammen. Er zeigt Anzeichen geistiger Verwirrung. So gibt er Lene die Schuld und beschließt, seinen Sohn zu rächen, indem er Lene und ihr Kind ermordet. Thiel wird an den Gleisen sitzend gefunden und in ein Irrenhaus gebracht.
Textstelle I
Ein dunkler Punkt am Horizonte, da, wo die Geleise sich trafen, vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde wachsend, schien er doch auf einer Stelle zu stehen. [1] Plötzlich bekam er Bewegung und näherte sich. Durch die Geleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein dumpfes Getöse [2], das, lauter und lauter werdend, [3] zuletzt den Hufschlägen eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht unähnlich war. [4] Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriss die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte – ein starker Luftdruck – eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. [5] So wie sie anwuchsen, starben nach und nach die Geräusche. Der Dunst verzog sich.
- Die Durchfahrt des Zuges wird detailgetreu dargestellt. Die Wendung »[v]on Sekunde zu Sekunde« weist dabei auf den sog. Sekundenstil hin. Dieser versucht die einfachen Abläufe der Realität in all ihren komplexen Einzelheiten zeitdeckend wiederzugeben.
- In den vier nominalisierten Verben zeigt sich das Bemühen um größtmögliche Präzision.
- Abermals wird der Versuch sichtbar, jede Sekunde des Vorgangs zu erfassen.
- Am Ende wird das Maschinengeräusch mit einem Vergleich ausgedrückt. In der negativen Formulierung »nicht unähnlich« manifestiert sich die Überzeugung, dass die Dichtung sich der Realität annähern, sie aber niemals erreichen kann.
- Die moderne Technik in Form der Dampfeisenbahn wird nicht ausgespart, sondern bildet ein zentrales Leitmotiv der Novelle. Gezeigt werden ihre faszinierende Hässlichkeit (»das schnaubende Ungetüm«), die Gewalttätigkeit, mit der sie in das Leben der Menschen eingreift.
Textstelle II
»Pfui, pfui, pfui!« […] Die Worte folgten einander in steigender Betonung, und die Stimme, welche sie herausstieß, schnappte zuweilen über vor Anstrengung. [1] »Meinen Buben willst du schlagen, was? Du elende Göre unterstehst dich, das arme, hilflose Kind aufs Maul zu schlagen? – wie? – he, wie? – [2] Ich will mich nur nicht dreckig machen an dir, sonst – ...« In diesem Augenblick öffnete Thiel die Tür des Wohnzimmers, weshalb der erschrockenen Frau das Ende des begonnenen Satzes in der Kehle steckenblieb. [3] Sie war kreidebleich vor Zorn; ihre Lippen zuckten bösartig; sie hatte die Rechte erhoben, senkte sie und griff nach dem Milchtopf. [4]
- Lenes direkte Rede wird präzise mit allen non- und paraverbale Begleiterscheinungen wiedergegeben. Wie in einer Partitur gehören dazu Angaben zur „Betonung“, zu Lautstärke und Tempo.
- Lenes Schimpftirade erscheint wie in einer Audio-Aufnahme. Die vielen Interjektionen werden in ihrer scheinbar sinnlosen Wiederholung dargestellt. Die Zeichensetzung gibt dabei Betonung und Pausen an.
- Abgebrochene Sätze sind charakteristisch für die Wiedergabe der direkten Rede in naturalistischen Texten. Hier wird das plötzliche Verstummen wieder durch die Zeichen angedeutet. Der Gedankenstrich steht für das drohende Anheben der Hand, die drei Punkte für die folgende Überraschung.
- Lenes komplexe Gefühlsregungen werden – wissenschaftlich genau – an verschiedenen äußeren Symptomen dargestellt.
Textstelle III
Einen Augenblick schien es, als müsse er gewaltsam etwas Furchtbares zurückhalten, was in ihm aufstieg; dann legte sich über die gespannten Mienen plötzlich das alte Phlegma, von einem verstohlnen begehrlichen Aufblitzen der Augen seltsam belebt. [1] Sekundenlang spielte sein Blick über der starken Gliedmaßen seines Weibes [2], das, mit abgewandtem Gesicht herumhantierend, noch immer nach Fassung suchte. Ihre vollen, halbnackten Brüste blähten sich vor Erregung und drohten das Mieder zu sprengen, und ihre aufgerafften Röcke ließen die breiten Hüften noch breiter erscheinen. [3] Eine Kraft schien vor dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen fühlte.[4]
- Seine Gefühlsregungen werden zunächst wieder in Außensicht wiedergegeben und an äußerlichen Beobachtungen (»schien es«, »Aufblitzen«) festgemacht.
- Hier sind es die seelischen Abläufe, die zeitdehnend beschrieben werden. Jeden »Augenblick« kann die Stimmung kippen.
- Die psychologischen Hintergründe werden in ihrer Widersprüchlichkeit schonungslos offengelegt: Die Offenheit, mit der hier Thiels sexuelle Abhängigkeit von seiner zweiten Frau gezeigt wird, ist revolutionär.
- Hier wird Thiels Innenleben personal in Form von Gedankenbericht wiedergegeben.