Mittelalter (750-1600)

Dû bist mîn, 
ich bin dîn 
des solt dû gewis sîn. dû bist beslozzen in mînem herzen, verlorn ist das sluzzelîn: dû muost ouch immêr darinne sîn. Anonym (nach 1150)

Das Mittelalter ist der Beginn der deutschen Literaturgeschichte. Deutsch setzt sich gegenüber dem Latein als Literatursprache durch. Neben der geistlichen Literatur in den Klöstern entstehen an Höfen und in den Städten vermehrt weltliche Werke, v.a. Heldenepen und Liebesgesänge (Minnesang).

Epochenbezeichnung

Der Ausdruck Mittelalter kommt in der italienischen Renaissance im 14. Jahrhundert auf, also erst gegen Ende der Epoche. Die Künstler des sog. Rinascimento nehmen sich die Kunst der römischen und griechischen Antike zum Vorbild. So verstehen sie sich als Menschen, die nach einer langen Zeit »wiedergeboren« (franz. re-naître) werden. Das Mittelalter wird dabei als dunkle (aetas obscura) oder eben als »mittlere« Epoche (aetas aevum) angesehen, als die Mitte zwischen der Antike und deren Wiederaufleben.

Zeitgeschichte

Im Früh-MA (ab 750) vollzieht sich die Bekehrung der Germanen zum Christentum. Daneben ist das Leben der Menschen von der streng hierarchisch gegliederten Feudalgesellschaft geprägt: Man wird in einen bestimmten Stand hineingeboren und kann diesen nicht mehr verlassen. Mit dem einem zugewiesenen Platz in der Gesellschaft sind bestimmte Rechte und Pflichten verbunden. Die große Mehrheit der Menschen gehört dem unfreien Dritten Stand an.

Im Hoch-MA zwischen der Mitte des 11. und der Mitte des 13. Jahrhunderts gewinnt die höfische Kultur unter Friedrich Barbarossa (1152-1190) und der folgenden Staufer-Herrscher an Bedeutung. Das Ideal des Rittertums etabliert sich und wird in den Kreuzzügen ins »Heilige Land« gefestigt. Diese sind aufwendig, aber erfolglos.

Zu Beginn des Spät-MAs ab der Mitte des 13. Jahrhunderts nimmt daher der Einfluss der Städte zu. Dabei entwickelt sich ein Wirtschaftssystem, das auf Geldwirtschaft durch Handel und Handwerk basiert. So wächst das kulturelle und politische Selbstbewusstsein des städtischen Bürgertums. In Straßburg entwickelt Johannes Gutenberg zwischen 1440 und 1450 den Buchdruck mit beweglichen metallenen Lettern. Damit beginnen Bücher für breitere Schichten erschwinglich zu werden. Die Herrschaft des Christentums bleibt nicht unangefochten: In der Renaissance, die nun aus Italien auf Deutschland übergreift, wird die Antike zum neuen Orientierungspunkt der Kultur. Daraus entwickelt sich die Idee des Humanismus, der das Augenmerk auf den Menschen richtet. Die Reformation im 16. Jahrhundert schließlich spaltet die christliche Kirche.

Literaturepoche

Gelesen und geschrieben wird im Früh-MA (8.-12. Jh.) nur in Klöstern. Die übrige Bevölkerung ist analphabetisch. Zunächst entstehen ausschließlich lateinische Texte, Deutsch als Literatursprache hat einen schweren Stand. Ein wichtiger Meilenstein ist Otfrid von Weißenburgs Evangelienharmonie, eine zusammenfassende Bibelübersetzung aus dem 9. Jh. Der Theologe ersetzt darin erstmals den bisher üblichen Stabreim (Alliteration) durch den romanischen Endreim, wie er bis heute üblich ist.

Zu Beginn des Hoch-MAs ab dem 12. Jh. sind es die Höfe, Ritterburgen und Fürstenschlösser, die sich als Zentren der Literatur etablieren. Neben den geistlichen Texten, die weiterhin in den Klöstern gepflegt werden, entstehen erstmals weltliche Werke in der Volkssprache. So macht Pfaffe Lamprecht mit Alexander dem Großen erstmals eine geschichtliche Figur zu einem literarischen Helden. Unter dem Eindruck der Kreuzzüge entwickelt sich das Ideal des Ritters, das nun im ritterlich-höfischen Epos besungen wird. Diese Form der Literatur ist realitätsfremd, beruht sie doch auf einem zeitlosen Muster, nicht auf konkreter Erfahrung. Oft handelt es sich auch um überlieferte Stoffe, die ins Deutsche übersetzt und kunstvoll abgewandelt werden. So entstehen Wolfram von Eschenbachs »Parzival«, Gottfried von Straßburgs »Tristan« sowie »Erec« und »Iwein« von Hartmann von Aue.

Zu den ritterlichen Tugenden gehört das Frauenlob in Form des sog. Minnesangs. Darin besingt der Minnesänger seine Liebe zu einer für ihn unerreichbaren Frau, meist der Frau seines Mäzens (Förderers). Dieses Werben muss in der hohen Minne per definitionem unerfüllt bleiben. In der niederen Minne dagegen ist es den Beteiligten vergönnt, ihr Liebesglück in sinnlicher Form zu genießen.

Insbesondere Walther von der Vogelweide gelingen in seinen »Mädchenliedern« Kunstwerke, die die Entwicklung der Lyrik nachhaltig beeinflussen. Daneben macht er sich in der »Spruchdichtung« einen Namen, indem er zu ethisch-religiösen Fragen dezidiert Stellung nimmt. Obschon er sehr erfolgreich ist, muss er sich seinen Lebensunterhalt lange als fahrender Sänger verdienen.

Im Spät-MA verlagert sich das Zentrum der Literatur in die Städte. Dabei wird die höfische Literatur von den Bürgern imitiert. So werden die Versepen in Prosa übersetzt und in sog. Volksbüchern unters Volk gebracht. Der Minnesang wird im städtischen Meistersang kopiert. Die Meistersinger sind Handwerker, die ihre Kunst nach strengen Regeln ausüben und in Zünften organisiert sind. Aus den Liedern der niederen Minne entwickelt sich das Volkslied. Erst allmählich entdeckt das Bürgertum sich selbst als Inhalt der Dichtung.

Merkmale

Form

  • Genres:
  • geistliche Werke (Bibeltexte, Legenden)
  • ritterliche Versepen (Volksbücher)
  • Minnesang (Meistersang)
  • niedere Minne (Volkslied)
  • Spruchdichtung
  • anfangs nur Lateinisch, dann allmählich Texte in der Volkssprache (Mittelhochdeutsch)
  • meist versifizierte Sprache
  • Befolgung formaler Regeln wichtiger als Inhalt
  • Stabreim (bis 9. Jh.), danach Endreim

Inhalt

  • Tendenz zu stereotypen Figuren und Handlungen: Ideal, nicht Realität wird beschrieben
  • konventionalisierter Ausdruck
  • Dienstbarkeit der Literatur, d.h. Werke dienen bestimmtem Zweck: geistliche Werke der religiösen Erbauung, weltliche Werke der Idealisierung des Herrschers oder des Rittertums
  • christliche Heilslehre als Kontext für alle Werke
  • Beschwörung und Bestätigung akzeptierter Normen und Werte
  • Übernahme traditioneller Stoffe, vorwiegend Übersetzungen französischer Werke
  • Heldengeschichte: Protagonist (Ritter) muss sich durch Prüfungen bewähren
  • Belohnung guten, Bestrafung schlechten Verhaltens
  • Minnesang: Lobgesang an die unerreichbare, höher gestellte Dame

Epochenübergang

Von der althochdeutschen, vorchristlichen Literatur sind nur wenige Zeugnisse überliefert. In den beiden »Merseburger Zaubersprüchen« zeigt sich noch der Glaube an die Magie der Sprache, die Fesseln lösen und Tiere heilen kann. Das »Hildebrandslied« schildert das Zusammentreffen eines Vaters mit seinem Sohn, das zum tödlichen Zweikampf der beiden führt.

Während Althochdeutsch für uns kaum nachvollziehbar ist, lassen sich mittelhochdeutsche Texte mit Hilfe eines Handwörterbuch (Matthias Lexer, Online-Ausgabe) und einigen Vorkenntnissen gut verstehen.

Zu Beginn des Mittelalters wird nun die heidnische Religion durch das Christentum abgelöst und im Verlauf der Epoche wird die lateinische Sprache der Klöster langsam durch die deutsche Volkssprache (Mittelhochdeutsch) ersetzt.

Der im Althochdeutschen übliche Stabreim wird zudem in der mittelhochdeutschen Literatur durch den Endreim ersetzt.

Merkwürdiges

Von seiner Herzensdame erhört und zu sich ins Gemach geholt zu werden – darauf scheint der Minnesänger ebenso inständig wie vergeblich zu hoffen. So wird ihm die Angebetete immer wieder »einen Korb geben«, ihn »durchfallen« lassen. Beide Redewendungen leiten sich ab von der mittelalterlichen Vorstellung, dass die Dame einen Verehrer in einem eigens dafür bereitgestellten Korb zu sich hinaufzieht. Handelt es sich jedoch um einen lästigen Verehrer, kann der Korbboden vorgängig künstlich gelockert werden. Dem Freier geschieht es dann, dass er »durch den Korb fällt« oder eben »durchfällt«. Eine andere, ebenso perfide Möglichkeit beschreibt Thomas Murner in »Geuchmatt«, einer Satire auf alle Narren der Liebe. Einer von ihnen, Virgilius, wird von seiner Angebeteten auf eine bestimmte Nacht zu sich unters Fenster bestellt:

Er solt zuo einem fenster gon, Da wolt sy ein korb aber lon, Daryn solt er sich setzen schon. Er thet das selb on allen argwon. Als sy in halber vff hyn zoh, das lüstig wyb von dannen floh Vnd ließ ihn hangen an der wend, Daß er offlich da wardt geschendt Vnd yederman das selber seyt Das er do hing, vmb wybs bescheid.

Der leidenschaftliche Verehrer wird also buchstäblich »hängen gelassen« und so zum Gespött der Leute.

Autor: Hartmann von Aue

gest. um 1210/20, Alemannischer Raum

Wichtige Werke

  • »Der arme Heinrich« (Versnovelle, um 1180/90)
  • »Erec« (Versepos, um 1180/90)
  • »Gregorius« (Versepos, um 1190)
  • »Iwein« (Versepos, um 1200)

Leben

Angaben zu Hartmann von Aues Lebensverlauf findet man fast nur in seinen literarischen Werken wie z.B. im Prolog zum »Armen Heinrich«. Hier bezeichnet er sich als »dienstman zOuwe« (V. 5), d.h. als einen niederen Beamten, der unfrei geboren wird und sich in den niederen Adelsstand emporarbeiten kann. Außerdem beschreibt er sich als gebildet und belesen, was er durch die Adaption französischer Vorbilder beweist. Wo sich der genannte Ort Aue (»Ouwe«) befindet, ist Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Festzustehen scheint, dass er dem Herzogtum Schwaben angehört. Dieses umfasst das Gebiet zwischen den Vogesen und dem Ammersee bei Augsburg und erstreckt sich im Süden in die Schweiz bis an den Gotthard. Auffällig ist, dass sowohl der Dichter und seine Hauptfigur »von Ouwe geboren« (V. 49) sind. Entsprechend könnte es sich beim »Armen Heinrich« um eine poetische Selbstdarstellung Hartmanns handeln.

Werk: »Der arme Heinrich« (Versnovelle, um 1180/90)

Heinrich ist das Muster eines reichen, tugendhaften und angesehenen Ritters. Als ihn Gott mit Aussatz (Lepra) straft, wird er »arm« und ist fortan sozial isoliert. Statt sich aber wie der vorbildliche Hiob in sein Schicksal finden, lehnt sich Heinrich dagegen auf. Der beste Arzt seiner Zeit im italienischen Salerno verrät ihm das einzige Heilmittel: das frische Herzblut einer Jungfrau, die sich freiwillig für ihn opfern würde. Entmutigt durch die Unmöglichkeit einer Heilung kehrt Heinrich nach Schwaben zurück. So vegetiert er vor sich hin, bis er ein (8 bis 12 Jahre) junges Mädchen kennen lernt. Dieses ist bereit, sich für ihn zu opfern. Widerstrebend lassen sich erst dessen Eltern, dann Heinrich davon überzeugen. Als er aber das unschuldige Mädchen hilflos auf dem Operationstisch auf seine Hinrichtung warten sieht, überfällt ihn plötzlich Mitleid. Durch sein beherztes Eingreifen wird er von Gott von seiner Krankheit geheilt. So können der wieder gesunde Heinrich und das Mädchen heiraten.

Textstelle I

Im Vorwort spricht der Dichter über sich selbst:

Ein ritter sô gelêret was Ein ritter sô gelêret was daz an den buochen las dass er in den Büchern alles las, [1] was er daran geschriben vant: was er geschrieben fand. der was hartman genant, Sein Name war Hartmann, dinsteman was er zOuwe. er war Dienstmann (Beamter) in Aue.[2] er nam im manige schouwe Er warf manchen prüfenden Blick an mislîchen bouchen: in verschiedene Bücher: dar an begunde er suochen, Darin begann er zu suchen, [3] ob er iht des funde, ob er nicht etwas finden würde, dâ mite er swaere stunde mit dem er beschwerliche Stunden möhte senfter machen, heiterer machen könnte, [4] und von so gewanten sachen, namentlich Dinge, die so geartet waren, daz gotes êren töhte dass sie Gottes Ehre vermehrten und dâ mite er sich möhte und ihn (Hartmann) gelieben den liuten. bei den Leuten beliebt machten. [5] nu beginnet er iu diuten Nun begann er auszudeuten ein rede, die er geschriben vant. eine Erzählung, die er gefunden hatte. [6] dar umbe hât er sich genant, Deshalb hat er (Hartmann) seinen Namen genannt, daz er siner arbeit, damit er für seine Mühen, die er dar an hât geleit, die er auf sich genommen hat, iht ane lon belibe nicht ohne Lohn bleiben würde. [7]
  1. Eine gewisse Bildung gehört zum Anforderungskatalog eines Ritters. Dass er darüber hinaus vielseitig belesen ist, ist außergewöhnlich
  2. Hartmann stellt sich hier selber als Dienstmann, d.h. als eine Art Beamter, dar.
  3. Wie die geistliche Literatur auf Erbauung zielt die höfische Literatur im Mittelalter auf gehobene Unterhaltung des handverlesenen Publikums.
  4. Auch weltliche Geschichten stehen selbstverständlich im Kontext der christlichen Heilslehre.
  5. Der mittelalterliche Dichter ist vom Wohlwollen seines Mäzens abhängig. Er lebt am Hof mit dessen Sippe zusammen und lebt umso angenehmer, je besser seine Werke ankommen.
  6. Der mittelalterliche Dichter soll – wie der antike – keine eigenen Geschichten erfinden, sondern sich darauf beschränken, die bereits bekannten Stoffe und Werte kunstvoll zu reproduzieren. Mit dem Verb diuten verweist Hartmann darauf, dass er einerseits einen Stoff »übersetzt«, ihn aber andererseits auch »interpretiert« und »deutet«. Allerdings sind keine Quellen für den Epos bekannt. Es scheint sich also um eine Art umgekehrtes Plagiat zu handeln …
  7. Die Werke sind meist Auftragsarbeiten, für die der Dichter den entsprechenden Lohn erhält. Darüber hinaus erhofft sich Hartmann Zuspruch bei unbekannten Leserinnen und Hörern, die für ihn nach seinem Ableben beten mögen.

Textstelle II

Er hete ze sînen handen Er hatte zu seiner Verfügung geburt unde rîchheit; edle Abstammung und Reichtum. [1] Ouch was sîn tugent vil breit. Dazu verfügte er über eine vielseitige Tüchtigkeit. [2] Swie ganz sîn habe waere, Doch so vollkommen sein Besitztum war, sîn geburt unwandelbaere so einwandfrei seine Abstammung, und wol den fürsten gelîch: die der eines Fürsten ebenbürtig war, doch was er unnâch alsô rîch so konnten sie doch nicht mithalten der geburt und des guotes seine Abstammung und sein Besitztum so der êren und des muotes. mit seinem Ansehen bei den Leuten und seiner Gesinnung. [3] Sîn name was erkennelich, Sein Name war bekannt und hiez der herre Heinrich er hieß Herr Heinrich und was von Ouwe geborn. […] und stammte aus Aue. [4] er was ein bluome der jugent, Er war Ausbund an Jugend [5] der werltvreude ein spiegelglas, ein Spiegel der Weltfreude staeter triuwe ein adamas, […] ein Diamant an Treue [5] ein schilt siner mage, Er war ein Schutzschild für seine Angehörigen [6] der milte ein glichiu wage. […] und eine gerechte Waage der Mildtätigkeit. [7] er was hövesch unde wis Er war erfahren in der Hofkultur und weise. [8]
  1. Das ritterliche Ideal wird in den Anfangsversen modellhaft vorgestellt: Der Ritter soll von edler Abstammung (geburt) sein.
  2. Der Ritter soll tugendhaft sein (tugent), dazu gehören u.a. Tüchtigkeit und Tapferkeit.
  3. Noch wichtiger als edle Abstammung und weltlicher Besitz ist, was der Ritter daraus macht: Ansehen (êre) und die richtige Gesinnung (muot).
  4. Hier findet sich Hartmanns Selbstdarstellung im Werk: Er gibt an, wie seine Hauptfigur in Aue geboren worden zu sein.
  5. Beständigkeit und Loyalität sind weitere Tugenden, die der Ritter an den Tag legen muss.
  6. Der Ritter soll sich »ritterlich« vor seine Verwandten stellen, wenn sie bedrängt werden.
  7. Auch ein freigebiges, grosszügiges Wesen gehört zum Katalog der geforderten Tugenden.
  8. Der Sammelbegriff hövesch fasst alle Tugenden zusammen: Ein musterhafter Ritter ist, wer die Finessen der Hofkultur kennt.

Textstelle III

da begunde erz ane strichen An diesem [Wetzstein] strich [der Arzt] es [das Messer] harte unmüezeclichen, in grosser Hast da bi wetzen. daz erhorte um es zu wetzen. Das hörte [1] der ir vreude storte, jener, der ihre Freude störte, [2] der arme Heinrich hin vür, der arme Heinrich, draußen, dô er stuont vor der tür, als er vor der Tür stand und erbarmete in vil sêre, und es ihm Kummer bereitete, daz er sî niemer mêre dass er sie nimmer mehr lebende solde gesehen. lebend sehen sollte. nu begunde er suochen unde spehen, So begann er zu suchen und auszuspähen, unz daz er durch die want bis er in der Wand ein loch gânde vant, ein Loch (gehend) fand. [3] und ersach sî durch die schrunden Und durch diese Ritze sah er sie nacket und gebunden. nackt und gefesselt ir lîp der was vil minneclich. Ihr Leib, der war sehr liebreich. [4] nû sach er sî an unde sich Nun sah er erst sie an, dann sich selbst, und gewan einen niuwen muot. dann änderte er seinen Sinn. [5] in duhte do daz niht guot, Ihn dünkte das nicht mehr in Ordnung, des er e gedaht hate was er vorher gedacht hatte, und verkerte vil drate und er verkehrte sogleich sin altez gemüete seine einstige Denkweise in eine niuwe güete. in eine neue Güte. [6]

Hartmann lässt seinen Helden die Schlüsselszene erst nur akustisch miterleben, was diese in der Vorstellungskraft von Heinrich und den Lesenden noch viel drastischer erscheinen lässt.

  1. Kurz vor ihrem vermeintlichen Opfertod stört sich die junge Frau daran, dass Heinrich den Gang der Hinrichtung beeinträchtigt – so weit geht ihre Identifikation mit dem christlichen Märtyrertum. Später, nachdem er die Opferung verhindert hat, wird sie ihm die erbittertsten Vorwürfe machen.
  2. Die Wirkung der ‚Hinrichtung‘ wird noch einmal gesteigert, indem Heinrich sie durch eine Lücke betrachtet. Das Voyeuristische der Szene zeigt, welch raffinierter, modern anmutender Mittel sich die mittelalterliche Literatur bedient.
  3. An dieser Stelle kann man ganz entfernt die Verehrung einer unnahbaren Frau angedeutet sehen, wie sie im Minnesang üblich ist. Allerdings sind hier die Rollen vertauscht: Das Bauernmädchen ist die unterlegene, vom Tod bedrohte; der Mann dagegen ist der sozial Privilegierte.
  4. Der Held des Epos muss sich typischerweise durch eine Prüfung bewähren. Hier besteht die Prüfung darin, Gottes Strafe anzunehmen, statt andere leiden zu lassen. Paradoxerweise wird er durch die Annahme der Strafe davon verschont.
  5. Im heutigen Verständnis ist der Ritter ein Furch einflößender Einzelkämpfer. Hier zeigt sich, dass seine Stärke gepaart sein muss mit christlicher Güte.

Weitere Autoren

Otfried von Weißenburg (um 790-875)

Otfrid von Weißenburg ist der erste Dichter der deutschen Literaturgeschichte, dessen Namen wir kennen. Er war Mönch im Elsaß und lebte von etwa 790 bis 875. Seine zusammenfassende Erzählung der vier Evangelien, die »Evangelienharmonie«, ist deshalb bedeutsam, weil Otfried für die Übersetzung keine der ‚Heiligen Sprachen’ Griechisch oder Latein brauchte, sondern die deutsche, fränkische Volkssprache.

  • Walther von der Vogelweide (um 1170-1230)
  • Wolfram von Eschenbach (um 1170-1220)
  • Gottfried von Strassburg (gest. um 1210)
  • Wernher der Gärtner (Mitte des 13. Jh.s)
  • Sebastian Brant (1457/58-1521)

Weitere Werke

  • Otfrid von Weißenburg: »Evangelienharmonie« (Bibelübersetzung, 10. Jh.)
  • Walter von der Vogelweide: Lieder
  • Wolfram von Eschenbach: »Parzival« (Versepos, um 1200/10)
  • Gottfried von Straßburg: »Tristan« (Versepos, um 1210)
  • Wernher der Gärtner: »Meier Helmbrecht« (Versepos, um 1250/80)
  • Johannes von Tepl: »Der Ackermann aus Böhmen« (Streitgespräch, um 1400)
  • Sebastian Brant: »Narrenschiff« (Satire, 1494)