Interpretation

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Interpretation

Literarische Texte weisen gegenüber Sachtexten zwei wesentliche Unterschiede auf: Sie existieren nicht selbständig, sondern sind auf die Lesenden angewiesen. Außerdem können sie im Gegensatz zu Sachtexten nicht wirklich veralten, sondern nehmen die Zeit in sich auf. So werden literarische Texte durch die Interpretation immer wieder aktualisiert, in ihrer Bedeutung erweitert. Dazu gibt es eine Reihe von Werkzeugen, die Interpretationsverfahren.

Leerstellen

Die wichtigsten Verfahren zur Interpretation eines literarischen Textes

Ein literarisches Werk ist mehrdeutig. Und so gibt es mehrere Verfahren, um einen Text zu interpretieren. Man kann den Fokus auf die Werke selbst, ihre Beziehung zu den Autor/innen, zu den Leser/innen, zu anderen literarischen Werken oder zur Gesellschaft im Allgemeinen legen. Keine dieser Interpretationsverfahren ist richtig oder falsch. Sie alle können einen Beitrag leisten, um die Bedeutung eines Textes zu vertiefen.

Bezüge innerhalb des Textes

Textimmanentes Interpretationsverfahren

Am einfachsten ist es, wenn wir den Text rein auf sich selbst beziehen. Wir analysieren inneren Bezüge des literarischen Einzelwerks. So achten wir auf die Struktur, die Wortwahl, die Leitmotive usw. Dabei ziehen wir außer dem Text keinerlei äußere Quellen (z.B. Autor, Gesamtwerk, Kontext, Wirkung) hinzu.

Textgenetisches Interpretationsverfahren

Dieses Verfahren konzentriert sich im Wesentlichen ebenfalls auf den Text, versucht aber zu rekonstruieren, wie es zum Text in der endgültigen Form gekommen ist. Es handelt sich also um den Versuch, den Schreibprozess nachvollziehbar zu machen. Dabei untersucht man Entwürfe, Überarbeitungsversionen, Varianten, Streichungen usw. Man ist also auf eine historisch-kritische Edition angewiesen, in der all diese Erarbeitungsstufen ersichtlich sind. Auf diese Weise erhält man Einblick in die Überlegungen von Autor/innen – wir können ihnen gewissermaßen beim Schreiben zusehen.

 

Bezüge zu Autor/innen

Biografisches Interpretationsverfahren

Literarische Werke werden von Menschen aus Fleisch und Blut gestaltet. Naheliegend ist es daher, zu untersuchen, was die Werke mit den realen Menschen zu tun haben. Das biografische Interpretationsverfahren untersucht die expliziten oder versteckten Bezüge eines literarischen Textes zum Leben der Autorin bzw. des Autors, namentlich zu bestimmen Lebensphasen und -situationen. Besonders interessant erscheinen dabei die Parallelen zwischen den Autor/innen und ihren Protagonist/innen.

Psychoanalytisches Interpretationsverfahren

Eine Sonderform des biografischen Interpretationsverfahrens ist die psychoanalytische Methode. Dabei konzentriert man sich auf die psychologischen Triebkräfte und Konstellationen der Figuren im Text und interpretiert diese im Hinblick auf die Autor/innen. Man geht also davon aus, dass die literarischen Werke immer etwas über das Unbewusste der Autor/innen verraten.

 

Bezüge zu Leser/innen

Rezeptionsästhetisches Interpretationsverfahren

Literarische Werke sind Irrgärten vergleichbar, die die Autor/innen für uns angelegt haben. Wir werden auf einen bestimmten Pfad geführt, auf richtige und falsche Fährten geleitet und dabei unaufhaltsam vorwärts getrieben, um einem Ziel, der Auflösung, entgegenzustreben. Einfacher gesagt: Literarische Texte lenken unsere Aufmerksamkeit. Das rezeptionsästhetische Interpretationsverfahren rekonstruiert diesen Prozess der Manipulation. Dabei analysiert man die Wirkungen des literarischen Werkes auf die einzelnen Lesenden. So fragt man sich, was dazu führt, dass man sich mit einer Figur identifiziert oder eben nicht identifiziert. Man geht der Frage nach, wie der Text Spannung aufbaut oder wie er einen auf falsche Fährten führt.

Rezeptionsgeschichtliches Interpretationsverfahren

Das rezeptionsgeschichtliche Interpretationsverfahren untersucht ebenfalls die Wirkung eines Werks. Es fokussiert dabei aber nicht auf den Leseprozess im Einzelnen, sondern auf die Gesamtwirkung des Textes. Die Rezeptionsgeschichte kann also als die Summe aller rezeptionsästhetischen Einzelereignisse verstanden werden. Untersucht wird also die Gesamtwirkung eines literarischen Werks auf die Zeitgenossen und die folgenden Epochen. Wie erfolgreich ist es? Wie gut wird es verkauft (Auflage)? Wie viele Rezensionen gibt es? Wie wird es darin bewertet? In welche Sprachen wird es übersetzt? Wird es verfilmt? Gibt es Hörspiele und Hörbücher davon? Gehört es zum literarischen Kanon? Ist es Pflichtstoff in Schulen? Welche Elemente im Text sind dafür verantwortlich, dass es so erfolgreich ist?

 

Bezüge zur Gesellschaft

Literatursoziologisches Interpretationsverfahren

Literarische Werke sagen immer etwas aus über die Gesellschaft, in der sie entstehen. Zunächst spielt die soziale Zugehörigkeit der Autor/innen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung eines Werkes. Die Tochter von Fabrikarbeitern wird vielleicht anders schreiben als der Sohn von Millionären. Und so wird auch das Werk in unterschiedlichen sozialen Schichten unterschiedlich rezipiert. Soziale Machtverhältnisse zeigen sich auch in literarischen Werken. So gehören Figuren unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus an und tragen politische Kämpfe aus. Das literatursoziologische Interpretationsverfahren untersucht also grob gesprochen die Machtverhältnisse in einem Werk: Wer dominiert? Wer wird dominiert?

Gender Studies

Eine Sonderform der soziologischen Analyse sind die Gender Studies. Sie untersuchen nicht die Machtverhältnisse im Allgemeinen, sondern in Bezug auf das Geschlecht. Ganz allgemein geht es um die Frage: Welche Rolle spielt der Faktor Geschlecht bzw. Gender in einem Werk? Ein einfaches Hilfsmittel kann bei der Analyse helfen: So kann man bei allen Figuren die Geschlechtszugehörigkeit zu Testzwecken umdrehen. Was wäre, wenn Faust eine Frau und Margarethe ein Mann wäre? Welche geschlechtsspezifischen Merkmale haben die Figuren? Wie gehen sie mit ihrer Geschlechterrolle um? Kritisiert oder unterstützt die Autorin bzw. der Autor die Geschlechterklischees? Neben diesen Fragen in Bezug auf die Handlung des Werks gehen die Gender Studies auch der Fragen nach, unter welchen Umständen Männer und Frauen schreiben können.

 

Bezug auf Literatur

Intertextuelles Interpretationsverfahren

Texte beziehen sich oft andere Texte. Dies kann explizit oder implizit, bewusst oder unbewusst geschehen. Explizite Bezüge liegen vor, wenn im Text ein Zitat aus einem anderen Werk vorkommt. Dies ist offensichtlich der Fall bei einem Motto, das dem Text vorangestellt wird. Ebenso deutliche wird der Textbezug, wenn ein Text explizit einen anderen parodiert. Neben diesen expliziten und bewussten Bezügen untersucht das intertextuelle Verfahren aber auch nach impliziten, unbewussten Links. So kann ein Autor einen anderen Text zitieren oder imitieren, ohne dass er dies kenntlich macht, ja ohne dass ihm dies bewusst ist.  Auch in diesen Fällen gilt es zu analysieren, was der Textbezug bedeutet.

Literaturgeschichtliches Interpretationsverfahren

Während das intertextuelle Verfahren Bezüge des Werkes zu beliebigen anderen Texten herstellt, versucht man es in der Literaturgeschichte mit den Werken derselben Epoche in Zusammenhang zu bringen. Man fragt sich also, inwiefern das Werk mit anderen Texten der Epoche übereinstimmt bzw. von ihnen abweicht. So sucht man es intellektuellen, literarischen oder künstlerischen Strömungen der Zeit zuzuordnen.