Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt.
Thomas Mann: »Der Zauberberg« (Roman, 1924)
In der Exilliteratur zwischen 1933 und 1945 dokumentieren, verarbeiten und bekämpfen die emigrierten Autor/innen die Diktatur mit literarischen Mitteln. Die Literatur im Dritten Reich besteht aus den Werken der dort verbliebenen Autoren, die das Regime unterstützen oder in die ‚innere Emigration‘ gehen.
Epochenbezeichnung
Der Name der Epoche ist selbsterklärend und führt zurück auf das lateinische exilium »Verbannung« bzw. exul »Verbannter«. Mit dem Begriff wird also in erster Linie das Schicksal der betroffenen Autorinnen und Autoren bezeichnet, kein inhaltliches Programm. Daneben bezieht sich der Ausdruck auf andere Werke und Literaturen, die in der Exilsituation entstanden, z.B. in der Zeit des Jungen Deutschland (Heinrich Heine, Georg Büchner, Ludwig Börne).
Zeitgeschichte
Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und weitere Gründe führen zu politischen Spannungen, der die Weimarer Republik nicht gewachsen ist. Nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 schreiten die Nationalsozialisten dazu, den Staat auf scheinbar demokratischem Weg in eine Diktatur umzuwandeln. Das gesellschaftliche Leben wird gleichgeschaltet, der innere ‚Feind‘ ausgemerzt. Jüdische Glaubensangehörige und Linke, aber auch Angehörige anderer Minderheiten werden in Konzentrationslager gesteckt, gefoltert und umgebracht.
Nach der Anzettelung des 2. Weltkrieges 1939 wird die Judenverfolgung auf die annektierten Gebiete ausgeweitet und mit industriellen Methoden betrieben. Mit dem Kriegseintritt der USA und der Niederlage in Stalingrad 1942 wendet sich das Blatt. Nach einer zerstörerischen Phase des »totalen Krieges« (Propagandaminister Goebbels) geht das »tausendjährige Reich« nach zwölf Jahren mit einer Bilanz von über 50 Millionen Toten zu Ende.
Literaturepoche
Spätestens mit Hitlers Machtübernahme wird die Situation der meisten Autorinnen und Autoren unmöglich. Wenn sie nicht verhaftet oder mit Schreibverbot belegt werden, haben sie mit Repressalien zu rechnen, ihre Berufsverbände werden in die Reichsschrifttumskammer überführt. Am 10. Mai 1933 kommt es zur Bücherverbrennung, bei der Werke linker, jüdischer oder anderer missliebiger Autorinnen und Autoren symbolisch verbrannt werden. Wer noch die Möglichkeit hat, emigriert zunächst ins nahe Ausland, danach, im Lauf des Krieges, nach Übersee.
Aus dem Exil versuchen die über 2000 Vertriebenen, das Regime mit literarischen Mitteln zu bekämpfen. Damit die Werke besser übersetzbar sind, geschieht dies meist in Prosa, in Form von Artikeln, Essays oder Romanen. Letztere schildern das Leben im 3. Reich (Anna Seghers »Das siebte Kreuz«), die Situation im Exil (Klaus Manns »Der Vulkan«) oder eine historisch vergleichbare Situation. Allgemein ist die Situation der Schreibenden im Exil schwierig: Nicht nur fehlt es an Publikationsmöglichkeiten (Drama, Lyrik), darüber hinaus sind sie sozial, kulturell und sprachlich isoliert, ja sie werden in ihren Gastländern als potentielle Spione angefeindet. Versuche, die verstreuten Exilautoren in einer Organisation zu versammeln, scheitern.
Die Exilliteratur lässt sich grob in drei Phasen unterteilen. In der ersten Phase (1933-1935/36) geben die Autoren ihrer Hoffnung Ausdruck, das Regime könne schnell überwunden werden. Die zweite Phase (1935/36-1939) ist geprägt von Ernüchterung. Die Lebensbedingungen der Schreibenden verschlechtern sich, was viele in den Selbstmord treibt. In der dritten Phase, als sich das Ende der Schreckensherrschaft abzuzeichnen beginnt, ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.
Die Literatur im Dritten Reich ist zweigeteilt. Zum einen gibt es die Zustimmungsliteratur, antisemitische und kriegsverherrlichende Werke, deren Publikation vom Regime unterstützt wird, zum anderen die Autorinnen und Autoren der ‚inneren Emigration‘. In ihren Werken sind keine politischen Meinungen erkennbar, zwischen den Zeilen oder im Ungesagten lässt sich jedoch ihre Position herauslesen.
Merkmale
Form
- Genres:
- Essay (Literaturzeitschriften)
- Roman, z.T. autobiografisch geprägt
- kaum Theaterstücke (wenige Zentren, v.a. Zürich)
- kaum Lyrik
- wenig formale Berührungspunkte
- meist einfache, direkte Sprache
- episches Theater (Brecht): Verfremdung
- Naturlyrik: stille Form des Widerstandes
- Exillyrik
Inhalt
- breites ideologisches Spektrum, vereint im Kampf gegen das NS-Regime: Warnung, Aufforderung zum Widerstand
- Vision eines wahren, besseren Deutschlands
- Dokumentation nationalsozialistischer Verbrechen
- Schilderung der Lebensbedingungen im Exil
- Spiegelung der Gegenwart anhand einer historisch vergleichbaren Situation
Epochenübergang
Es sind die namhaften Autor/innen und Autoren der Weimarer Republik, die ihre Arbeit fortsetzen. Weil dies unter radikal anderen Lebensbedingungen geschieht, tun sie dies mit neuen inhaltlichen Schwerpunkten. Bei aller ideologischen Distanz sind sie vereint im Kampf gegen die Diktatur und im Selbstverständnis, das bessere Deutschland zu repräsentieren.
Das Provokative, Frivole, Avantgardistische der Literaturen aus der Weimarer Republik macht einem ernsten, sachlichen, bisweilen pathetischen Ton Platz. Die nationalsozialistische Regime stellt oft einen mehr oder weniger offensichtlichen Bezugspunkt der Texte dar (Anspielungen)
Merkwürdiges
In der Nazi-Diktatur gibt es wenig zu lachen. Wenn, dann wird Humoristisches hinter vorgehaltener Hand erzählt: Es entsteht der Flüsterwitz. Hier einige Beispiele:
Wann ist der Krieg zu Ende? Wenn Göring in die Hosen von Goebbels passt.
Goebbels eröffnet das jährliche Winterhilfswerk: Keiner soll hungern, ohne zu frieren.
Kennst du den Unterschied zwischen Christentum und Nationalsozialismus? – Sehr einfach! Beim Christentum starb einer für alle – beim Nationalsozialismus sollen alle für einen sterben!
Hitler, Goebbels und Göring sitzen in einem sinkenden Boot. Wer überlebt? Deutschland!
Der Hitler hat Glück ghabt, dass er nicht Adolf Kräuter ghoaßn hat, sonst hätt ma immer ,Heil Kräuter' schrein müassn.
Autor: Stefan Zweig
1881-1942, Wien, Österreich
Wichtige Werke
- »Sternstunden der Menschheit« (Novellen, 1927)
- »Die Welt von gestern« (Autobiographie, posthum 1942)
- »Die Schachnovelle« (Novelle, posthum 1942)
Leben
Stefan Zweig wird am 28. November 1881 als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren. 1901 veröffentlicht er seine ersten Gedichte. Von 1919 bis 1934 lebt er in Salzburg, bevor er nach England emigriert. 1941 zieht er schließlich über die USA nach Brasilien. Sein berühmtestes Werk, die »Schachnovelle«, erscheint Ende 1942 in Buenos Aires. Zweig selbst erlebt die Publikation nicht mehr. Obschon er besser lebt als viele Exilschriftsteller, ist er »durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft« und kann nicht mitansehen, wie »[s]eine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet« (Abschiedsbrief). Zusammen mit seiner zweiten Frau bringt er sich um.
Werk: »Die Schachnovelle« (1942)
Auf einem Ozeandampfer wird der emigrierende Ich-Erzähler Zeuge, wie ein Amateur den amtierenden Schachweltmeister, Mirko Czentovic, zu einer Partie herausfordert. In extremis greift ein Unbekannter, Dr. B., ins Spiel ein und erreicht ein Remis. In der Binnenerzählung schildert dieser seine monatelange Gestapo-Einzelhaft, die er sich mit einem entwendeten Schachbuch verkürzt: erst durch das Nachspielen von Meisterpartien, dann durch Partien gegen sich selbst. Dabei verfällt er mehr und mehr dem Wahnsinn. In einer zweiten Partie schlägt Dr. B. den Weltmeister klar, in der Revanche aber bricht seine Krankheit wieder aus. Er muss die Partie aufgeben und schwört, nie wieder Schach zu spielen.
Textstelle I
»Wie genau und liebevoll die Gestapo mir längst ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatte [1], erwies dann äußerst handgreiflich der Umstand, daß noch am selben Abend, da Schuschnigg seine Abdankung bekannt gab [2], und einen Tag, ehe Hitler in Wien einzog [3], ich bereits von SS-Leuten festgenommen war. […]« Dr. B. unterbrach, um sich eine Zigarre anzuzünden. Bei dem aufflackernden Licht bemerkte ich, daß ein nervöses Zucken um seinen rechten Mundwinkel lief [4] […]. »Sie vermuten nun wahrscheinlich, daß ich Ihnen jetzt vom Konzentrationslager erzählen werde […], von den Erniedrigungen, Martern, Torturen, die ich dort erlitten [5]. Aber nichts dergleichen geschah. Ich kam in eine andere Kategorie, […] aus der die Nationalsozialisten entweder Geld oder wichtige Informationen herauszupressen hofften.
- Das lückenlose Bespitzelungssystem der Nazis wird in ironischer Brechung (»liebevoll«) dargestellt.
- Die berühmte Rundfunkrede des bei den Nazis in Ungnade gefallenen, halbfaschistischen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg vom 11. März 1933 wird thematisiert.
- Der erzwungene ‚Anschluss‘ Österreichs an Nazi-Deutschland und der Einmarsch deutscher Truppen in Wien werden verarbeitet. Hitlers »Einzug« in Wien vom 15. März wird dabei um drei Tage vorversetzt.
- Die Einzelhaft hat bei dem ehemaligen Gefangenen untilgbare Spuren hinterlassen.
- Das Schicksal der KZ-Häftlinge wird angedeutet, dessen Ausmaße Zweig erst vage bekannt sein kann.
Textstelle II
Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte [1], herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde [2]. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das Geleit zu geben, Telegraphenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur Deckshow spielte [3]. Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht scharf aufsprühte – anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt und photographiert worden.. [4]
- Der Passagierdampfer kann stellvertretend für alle Transportmittel gesehen werden, mit denen sich die vor den Nazis fliehenden Menschen in Sicherheit zu bringen suchten. Wie der Ich-Erzähler emigrierte Stefan Zweig über die USA nach Südamerika (Brasilien).
- Der Ausdruck ist in seiner übertragenen Bedeutung ein Hinweis auf die Ernsthaftigkeit der Situation: Vielen Zurückgebliebenen, aber auch manchem der Fliehenden, schlägt »die letzte Stunde«.
- Das Getümmel an Bord vermittelt einen entfernten Eindruck von den chaotischen Verhältnissen, die v.a. weniger betuchte Exilanten zu erdulden hatten.
- An Bord der Emigranten-Schiffe sind zahlreiche Prominente, darunter namhafte Künstlerinnen und Schriftsteller.
Textstelle III
[N]och nie hatte der Einbruch eines völlig Unbekannten in die ruhmreiche Gilde derart allgemeines Aufsehen erregt. [1] Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs solch eine blendende Karriere von vornherein zu weissagen. Bald sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, »seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell«. [2] Sohn eines blutarmen südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines Nachts von einem Getreidedampfer überrannt wurde, war der damals Zwölfjährige nach dem Tode seines Vaters [3] vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mitleid aufgenommen worden, und der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe wettzumachen, was das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der Dorfschule nicht zu erlernen vermochte. Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. [4]
- In der Figur des ungeschlachten Emporkömmlings vom Lande lässt sich eine Anspielung auf Hitler sehen, dessen Aufstieg in die Reihen der etablierten Politik ebenso kometenhaft war.
- Auch Hitlers geistige Fähigkeiten prädestinierten ihn nicht für eine außergewöhnliche Laufbahn.
- Hitler war vierzehn, als sein Vater starb. Beide leiden unter dem frühen Tod.
- Hitlers schulische Laufbahn verlief ähnlich holprig und endete ebenfalls vorzeitig ohne Abschluss.