Realismus ist die künstliche Wiedergabe, nicht das bloße Abschreiben, des Lebens.
Theodor Fontane
Der Poetische oder Bürgerliche Realismus stellt nach 1848/49 die gesellschaftliche Realität der Gründerjahre und des Kaiserreiches dar. Im Gegensatz zum europäischen Realismus will der Bürgerliche Realismus kein exaktes, gesellschaftskritisches Abbild der Wirklichkeit vermitteln, sondern dieses in künstlerischer Verklärung wiedergeben.
Epochenbegriff
Der Begriff Realismus lässt sich zurückführen auf das lateinische Nomen res „Sache, Wesen“ (vgl. Republik, res publica). Als Name der Stilrichtung wird er nach 1850 in Frankreich geprägt. In der Folge wird er auf die gesamteuropäische literarische Strömung übertragen, die sich v.a. gegen den Idealismus der Romantik wendet. Ihre im deutschen Sprachraum gängige Ausprägung bezeichnet man einerseits als Bürgerlichen Realismus, um ihre Nähe zur Bourgeoisie anzudeuten. Andererseits wird sie vom Schriftsteller Otto Ludwig als Poetischer Realismus definiert: Das Adjektiv deutet an, dass die Realität nicht vollkommen authentisch, sondern mit verklärender, poetisierender Tendenz wiedergegeben werden soll. Ludwig spricht von einer »Poesie der Wirklichkeit«, welche »die nackten Stellen des Lebens überblumen« soll.
Zeitgeschichte
Nach der gescheiterten Märzrevolution in Deutschland 1848/49 haben sich die Hoffnungen der demokratischen Kräfte auf einen liberalen Nationalstaat endgültig zerschlagen. Umso vehementer wird ein monarchistischer Nationalstaat in der Folge vom preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck angestrebt und verwirklicht. Bismarck gelingt es, im Deutschen Bund die Vorherrschaft Preußens zu sichern und die Macht durch militärische und diplomatische Mittel auszubauen. So wird nach dem Sieg im deutsch-französischen Krieg 1871 das Deutsche Reich (ohne Österreich) gegründet und König Wilhelm I. zum Kaiser gekrönt.
Der Glanz dieses Ereignis bleibt nicht ohne Eindruck auf das deutsche Bürgertum: Zwar hat es noch immer kein Mitspracherecht, identifiziert sich aber dennoch mit dem florierenden Kaiserreich. Durch den Geldzufluss aus Reparationszahlungen und den Bevölkerungszuwachs beschleunigt sich der wirtschaftliche Aufschwung, der seit der Mitte des Jahrhunderts im Gang ist. Eisenbahn, Dampfmaschine, Fabrikschlote prägen zunehmend den Alltag der Gründerjahre. In kurzer Zeit wandelt sich das Kaiserreich von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft. Im Rahmen eines schrankenlosen Wirtschaftsliberalismus (Manchestertum) erhöht das Großbürgertum sein Kapital immer mehr auf Kosten des in den Fabriken arbeitenden Proletariats, das zunehmend in Massenarmut verfällt. So zerfällt die Gesellschaft zunehmend in zwei Blöcke: das von materialistisch-marxistischen Gedanken geprägte Proletariat auf der einen Seite und die idealistische, kaisertreue Bourgeoisie auf der anderen.
Literaturepoche
Die Autorinnen und Autoren des Bürgerlichen Realismus prägen eine besondere Form des Realismus. Vom europäischen Realismus, vom ›Frührealismus‹ des Jungen Deutschland und vom folgenden Naturalismus grenzen sie sich ab. Sie sind nicht in einer Gruppe organisiert. Implizit in ihren Werken und explizit in theoretischen Schriften entwerfen sie aber ein relativ einheitliches, eigenständiges Gegenprogramm. Nicht »das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten« steht etwa nach Theodor Fontane im Zentrum. »Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt.« Der dargestellten Realität wird also bewusst ein verklärendes Moment hinzugefügt. Dazu gehört das Aussparen gewisser allzu greller Motive, etwa der unschönen Realität der industrialisierten Städte und des ›vierten Standes‹ (Proletariat). Stattdessen spielen die Geschichten wie im Biedermeier oft in ländlichen Umgebungen und/oder werden in eine historische Distanz verlegt. Dazu kommt ein gewisser Abstand zum Beschriebenen, der sich in einer humoristischen, satirischen oder ironischen Darstellung äußert (z.B. Wilhelm Buschs »Max und Moritz«).
In formaler Hinsicht hat der von der Klassik inspirierte Gestaltungswille eine ähnliche verklärende Wirkung: Die einzelnen Teile der Komposition sollen harmonisch aufeinander abgestimmt, zufällige Elemente weggelassen werden. So wird die Novelle zur bestimmenden Gattung der Zeit – ihr Gestaltungsprinzip ist gerade diese Reduktion einer realen Begebenheit auf das Wesentliche. Die zentralen Schriftstellerinnen und Schriftsteller widmen der Kurzform einen bedeutenden Teil ihres Schaffens: Gottfried Keller betont dabei die satirische, Conrad Ferdinand Meyer die historische, Theodor Storm die melancholische Dimension des Stoffes. Daneben schreibt Theodor Fontane zahlreiche bedeutende Zeitromane, darunter »Effi Briest«, einen Ehebruchroman mit realem Kern. Der Dramatiker Friedrich Hebbel bildet eine Ausnahmeerscheinung: Mit seinen realistischen Milieudramen weist er auf das naturalistische Drama voraus.
Merkmale
Form
- Genres:
- Novelle
- Roman
- klassischer Formwille: Ausgleich der Teile, harmonische Komposition
- Sprache: in Figurenrede Soziolekte und Dialekte (je nach gesellschaftlichem Rang)
- distanzierende Erzählweise (Humor, Ironie, Satire)
- oft allwissender Erzähler, der nicht wertet
- Beschreibung des Innenlebens der Figuren
- ausführliche detailgetreue Beschreibungen
Inhalt
- erfahrbare Wirklichkeit im Mittelpunkt
- Verklärung, künstlerische Läuterung der realen Gegebenheiten
- keine explizite Kritik an sozialen Missständen, Ausblenden negativer Themen (Industrialisierung, Proletariat)
- »Verherrlichung des Bürgertums« (Fontane): mustergültiges Handeln wird vorgeführt
- Tendenz zur Resignation und Melancholie
- Individuum im Vordergrund im Gegensatz zur Masse
Epochenübergang
Der bürgerliche Realismus setzt die realistischen Bestrebungen der Biedermeier-Literatur fort, ersetzt darin aber die romantische Dimension durch eine tendenziell sozialkritische. Die Radikalität der Jungdeutschen bleibt den Bürgerlichen Realisten aber fremd: Sie beschränken sich darauf, Missstände anzudeuten; um der allgemeinen Ordnung willen wird das Bestehende dennoch verteidigt.
Der Bürgerliche Realismus verhält sich ideologisch zum Jungen Deutschland ähnlich wie die Klassik zum Sturm und Drang: Der Mensch muss zuerst »reif« werden für die bürgerliche Mitbestimmung.
Der Einfluss journalistischer Tätigkeit auf die Literatur wird geringer. Epische Texte, Novellen und Romane, werden zu Hauptgattungen. Die meisten der Texte erscheinen im Vorabdruck in den immer wichtiger werdenden Zeitungen und Zeitschriften.
Merkwürdiges
Gottfried Keller war bekannt für seine einsilbige Art, die er auch am Stammtisch nicht verhehlte. Eines Abends brachte der Maler Arnold Böcklin seinen Sohn Carlo in die schweigende Runde. Diesem wurde es in Anwesenheit der stummen Geistesriesen immer mulmiger zumute. Umso dankbarer war er, als Kellers Taschentuch nach ausgiebigem Schnäuzen zu Boden fiel. »Herr Doktor«, sagte er, indem er das Stück aufhob und es Keller zurückgab, »Sie haben Ihr Taschentuch fallen lassen!« Keller nahm es entgegen, um gleich wieder in sein angestammtes Schweigen zu versinken. Auf dem Heimweg nahm er seinen Freund Böcklin zur Seite und ermahnte ihn ernst: »Das nächste Mal brauchst du keinen solchen Schwätzer mehr mitzubringen«.
Autor: Gottfried Keller
1819-1890, Zürich
Wichtige Werke
- »Der grüne Heinrich« (Bildungsroman, 1853-55)
- »Die Leute von Seldwyla« (Novellenzyklus, 1875)
- »Züricher Novellen« (Novellenzyklus, 1877)
- »Martin Salander« (Roman, 1886)
Leben
Gottfried Keller wird 1819 in Zürich als Sohn bürgerlicher, liberal gesinnter Eltern geboren. Seine Ausbildung zum Kunstmaler, erst in Zürich, dann in München, ist nicht erfolgreich. Krank und mittellos nach Hause zurückgekehrt, versucht er sich ab 1842 als Dichter. Ein außerordentliches Stipendium ermöglicht es ihm, sich ab 1848 in Heidelberg und Berlin seinen Studien und dem Schreiben zu widmen. Hier entsteht sein autobiografischer Roman »Der grüne Heinrich«. Nach seiner abermaligen Rückkehr in die Schweiz lebt er ab 1855 bei Mutter und Schwester. 1861 übernimmt er das Amt des Ersten Staatschreibers des Kantons Zürich, das er 1890 ablegt, um sich wieder ganz dem Schreiben zu widmen. 1890 stirbt er in Zürich.
Werk: »Der Schmied seines Glückes« (im Novellenzyklus »Die Leute von Seldwyla«, 1875)
Inhalt
Hans Kabis glaubt, dass jeder der Schmied seines Glückes sei. Deshalb wandelt er seinen Namen in „John Kabys“ um. So verharrt er ein paar Jahre als Friseur in Seldwyla, bis er von einem entfernten Verwandten erfährt, dem reichen Adam Litumlei in Augsburg. So macht er sich auf die Reise und bringt es so weit, Litumleis Vertrauen zu gewinnen, ja als Ziehsohn zum künftigen Alleinerben erklärt zu werden. Um sein Glück zu vervollkommnen, beginnt er eine Affäre mit der Frau seines Gönners. In Wirklichkeit tritt jedoch das Gegenteil ein: Als er nach einer längeren Bildungsreise nach Augsburg zurückkommt, trifft er einen anderen Erben an: das neugeborene Kind. Litumlei, dem er einzureden versucht, dass dieser nicht der Vater sein könne, enterbt und verbannt ihn. Zurück in Seldwyla kauft sich Kabis mit dem verbliebenen Geld eine kleine Schmiedstube und findet doch noch sein – bescheidenes – Glück.
Textstelle I
Jetzt begann er aber sich ernstlich zu regen und sann auf ein Unternehmen, das nicht für den Spaß sein sollte. [1] Schon oft hatte er viele Seldwyler um ihre stattlichen Firmen beneidet [2], welche durch Hinzufügen des Frauennamens entstanden. Diese Sitte war einst plötzlich aufgekommen, man wusste nicht wie und woher; aber genug, sie schien den Herren vortrefflich zu den roten Plüschwesten zu passen [3] und auf einmal erklang das ganze Städtchen an allen Ecken von pompösen Doppelnamen. Große und kleine Firmatafeln, Haustüren, Glockenzüge, Kaffeetassen und Teelöffel waren damit beschrieben und das Wochenblatt strotzte eine Zeitlang von Anzeigen und Erklärungen, deren einziger Zweck das Anbringen der Alliance-Unterschrift war. [4]
- Eine für Keller und den poetischen Realismus typische satirische Stelle: Das »ernstliche« Unternehmen des Protagonisten gerät vollends zu einem – ungewollten – Spaß.
- Die vielen neuen Firmen stehen für die Boom-Jahre der Gründerzeit, in der ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung zu verzeichnen ist.
- Das Entstehen einer der neumodischen Sitten wird beschrieben. Diese bedrohen den gewohnten Gang der Dinge und müssten bekämpft werden, wenn sie sich nicht mit der Zeit von selbst totlaufen würden.
- Typisch, wie Keller hier realistische Elemente versammelt, sie aber in satirischer Übertreibung darstellt. Außerdem zeigt sich im modernen Annoncenwesen noch einmal die wirtschaftliche Prosperität der Gründerjahre.
Textstelle II
[Im Auftrag seines Gastgebers bereist Kabys verschiedene Großstädte, zuletzt Paris:] Er patrouillierte alle Vergnügungsorte, Sommertheater und Spektakelplätze ab, lief durch die Raritätenkammern der Schlösser und stand allmittags in der Sonnenhitze auf den Paradeplätzen, um die Musik zu hören und die Offiziere anzugaffen, eh er zur Tafel ging. [1] Wenn er all die Herrlichkeiten unter tausend andern Menschen mit ansah, so wurde er ganz stolz und schrieb sich von allem Glanz und Getön das alleinige Verdienst zu, jeden für einen unwissenden Tropf haltend, der nicht dabeiwar. [2] [...] Keinem Bettler gab er etwas, keinem armen Kinde kaufte er je etwas ab, den Dienstbaren in den Gasthäusern wusste er beharrlich mit dem Trinkgelder durchzugehen, ohne Schaden zu leiden, [3] und um jeden Dienst feilschte er lange, ehe er ihn annahm. Am meisten Spaß machte ihm das Vexieren und Foppen der verlorenen Wesen, mit denen er sich im Vereine mit zwei oder drei Gleichgesinnten auf den öffentlichen Bällen unterhielt. [4]
- Der Alltag der von Massenarmut betroffenen, aufstrebenden Millionenstadt Paris wird nur von der Sonnenseite her beleuchtet. Gezeigt wird der repräsentativen Pomp des französischen Kaiserreichs.
- Ein weiteres typisches Beispiel für die satirische Darstellung: Am dummstolzen Kabys sollen die Lesenden erkennen, wie der mustergültige Bürger sich verhalten müsste.
- Die Realität der Bettler und des Proletariats in den Strassen wird nur angedeutet.
- Prostituierte werden nicht beim Namen genannt, sondern verhüllend als »verlorene Wesen« bezeichnet.
Textstelle III
[Kabys‘ Accessoiresammlung wird beschrieben:] Die Schlacht von Waterloo blitzte und donnerte auf einer zufriedenen Brust [1]; Ketten und Klunkern schaukelten sich auf einem wohlgefüllten Magen [2], durch die goldene Brille guckte ein vergnügtes und stolzes Auge, der Stock zierte mehr einen klugen Mann, als er ihn stützte, und die schöne Zigarrentasche war mit guten Stengeln angefüllt [3], welche er aus dem Mazepparöhrchen mit Verstand rauchte. Das wilde Pferd war schon glänzend braun, der Mazeppa darauf aber erst hell rötlich, beinahe fleischfarbig [4] [...]. Jedoch fand sich bald eine noch wichtigere Tätigkeit für die beiden Männer vor, als der Papa darauf drang, nun gemeinschaftlich jenen Roman zu erfinden und aufzuschreiben, durch welchen John zu seinem natürlichen Sohn erhoben wurde. [5]
- In der Brosche mit der »Schlacht von Waterloo« (Sieg über Napoleon, 1813) wird auf die Entstehungsbedingungen der Restauration und der Gründung des Deutschen Reiches angespielt.
- Hier deutet sich das wirtschaftliche Wohlergehen des Großbürgertums an, in das Kabys aufsteigen will.
- Die Beschreibungs-Technik des Poetischen Realismus zeigt sich modellhaft: In der Darstellung der modischen Accessoires erkennt man den Charakter ihres Besitzers.
- In Mazeppas Schicksal (im ertappten Liebhaber, den der Ehemann nackt auf ein Pferd binden und davonjagen lässt) spiegelt sich Kabys‘ eigenes. Die Fähigkeit, dergleichen bildungsbürgerliche Anspielungen zu durchschauen, gehört zur Eignungsprüfung der Bourgeoisie (die der Emporkömmling Kabys im Gegensatz zu den Lesenden nicht besteht).
- Indem Pflegevater Litumlei und ‚Sohn‘ ihre Lebensläufe zu einem »Roman« aus realen Tatsachen und verklärenden Erfindungen spinnen, führen sie das Verfahren des Poetischen Realismus parodistisch vor.