Symbolismus (1860-1925)

Ich fühlte, dass das ein Zeichen war, ein Zeichen für Eingeweihte, ein Zeichen, das die Fortgeworfenen kennen.

Rainer Maria Rilke: »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« (Roman, 1910)

Der Symbolismus ist eine künstlerische Bewegung um die Jahrhundertwende, die gegen den profanen Materialismus von Naturalismus und Realismus eine höhere, geheimnisvolle, ästhetisierte Kunstwelt erschafft. Losgelöst von ihrem soziokulturellen Kontext und möglichen politischen Zielen soll die Kunst nur um ihrer selbst betrieben werden (l‘art pour l‘art).

Epochenbezeichnung

Der Name verweist auf das Wort Symbol, das vom griechischen symbolon »Erkennungszeichen« bzw. dem Verb symbállein »zusammenbringen, zusammenwerfen« stammt. Ein Symbolon war im antiken Griechenland ein Gegenstand, der in zwei Teile gebrochen wurde, um zwei Parteien als Erkennungszeichen zu dienen: Passten die beiden Teile exakt zusammen, hatte man Gewähr, es mit der richtigen Person zu tun zu haben. Der Begriff des literarischen Symbolismus wird dann 1886 durch den französischen Autor Jean Moréas in seinem gleichnamigen Manifest geprägt. Von Frankreich aus greift die Bewegung auf andere europäische Literaturen über. Sie wird auch in der bildenden Kunst üblich.

Zeitgeschichte

Die Zeit der Jahrhundertwende ist geprägt von großer Unsicherheit: Während sich in der wirtschaftlichen Realität das wissenschaftliche Weltbild immer mehr durchsetzt, formiert sich konservativer Widerstand. Der Fortschrittsoptimismus des Wilhelminischen Zeitalters trifft dabei auf ein ausgeprägtes Untergangsbewusstsein: Das 19. Jahrhundert und seine mühsam aufrecht erhaltene politische Ordnung neigen sich dem Ende zu. Mit zunehmender Intensität strebt das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. nach Weltmacht. Der Wunsch nach kolonialer Expansion, dem sprichwörtlichen »Platz an der Sonne« (Reichskanzler von Bülow), mündet in ein kostspieliges Flotten-Wettrüsten mit Grossbritannien. Allgemein schlägt sich die epochale Unsicherheit in bis dahin ungekannten Aufrüstungsbemühungen nieder. Eine eigentliche Militarisierung der Gesellschaft ist im Gang.

Literaturepoche

»Die Kunst«, so schreibt der Literaturtheoretiker Hermann Bahr 1894, »will jetzt aus dem Naturalismus fort und sucht Neues. […] Nur fort, um jeden Preis fort aus der deutlichen Wirklichkeit, ins Dunkle, Fremde und Versteckte«. Ohne über ein einheitliches Programm zu verfügen, definiert sich der elitäre Zirkel der Symbolisten als Gegenbewegung zum Naturalismus. Abgelehnt werden dessen Konzentration auf die prosaische, proletarische Realität und seine Instrumentalisierung für politische Zwecke. Stattdessen soll die Kunst die Sinnenwelt als Geheimnis darstellen, als Symbol für etwas Unbekanntes, Übersinnliches, Mystisches. Ausserdem soll sie keinem äusseren Zweck dienen ausser sich selbst (l‘art pour l‘art).

Dabei ist die Form eines Werks wichtiger als sein Inhalt und seine Wirkungsabsicht. »jeder der noch von der sucht ergriffen ist etwas ‚sagen‘ etwas ‚wirken‘ zu wollen«, schreibt der Dichter Stefan George in der ihm eigenen Rechtschreibung, sei „nicht einmal wert in den vorhof der kunst einzutreten«. Die Nähe des Naturalismus zur kunstlosen Umgangssprache wird dabei ebenso abgelehnt wie seine Auflehnung gegen alle Regeln. Wie in der Weimarer Klassik wird eine gehobene, feierliche Sprache gepflegt und in der Formstrenge ein Ausgleich zwischen Regeln und Ausdruckswille gesucht. „Strengstes maass“, verspricht George, „ist zugleich höchste freiheit.“ So kommen traditionelle, scheinbar abgelegte Formen wie das Sonett oder die Elegie wieder zu Ehren.

Generell findet der Symbolismus in der Lyrik seine angemessenste Ausprägung. Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke schaffen unabhängig voneinander kunstvolle, in sich abgeschlossene Gebilde. Eine besondere, bei letzterem oft vorkommende Form ist das sog. Dinggedicht. Darin soll das geheimnisvolle Wesen eines Dinges, sein Symbolgehalt, wiedergegeben werden. Auf diese Weise erschafft der Symbolismus – vergleichbar mit der Romantik – eine künstlerische, künstliche Gegenwelt, die  sich in ihrer Ästhetik dezidiert von der Alltagsrealität abhebt. Wie in der ›schwarzen Romantik‹ werden v.a. die dunklen, morbiden Seiten hervorgehoben. So haftet der symbolistischen Literatur der Jahrhundertwende (fin de siècle) ein ausgeprägtes Untergangsbewusstsein an. Es ist nach Hermann Bahr »die letzte Flucht der Wünsche aus einer sterbenden Kultur«.

Merkmale

Form

  • Genres:
    • Lyrik: Sonett, Elegie, Dinggedicht
    • Novelle
  • Formstrenge: Besinnung auf traditionelle lyrische Formen
  • artifizielle, gehobene Sprache
  • Pathos: feierlicher Ausdruck
  • ausgeprägte Metaphorik: Allegorie
  • kunstvolle Verwendung rhetorischer Figuren: z.B. Onomatopoesie, Synästhesie
  • Wichtigkeit des edlen Erscheinungsbildes: Ornamente, Illustrationen, besondere Schrifttype, Rechtschreibung (Stefan George)

Inhalt

  • Gegenbewegung zum Naturalismus
  • Abwendung von der alltäglichen, technisch-sozialen Realität
  • Hinwendung zum Geheimnisvollen (suggestive Präsenz): Traum, Mystik
  • Endzeitstimmung: Bewusstsein, einer dem Untergang geweihten Kultur anzugehören
  • Faszination durch das Morbide, Krankhafte
  • Exklusivität, elitärer Charakter
  • Rätselhaftigkeit der Welt: Symbolkraft der Dinge (Dinggedicht)
  • Ästhetisierung der subjektiven Empfindungen und Wahrnehmungen

Epochenübergang

Der Symbolismus wendet sich dezidiert gegen den Naturalismus. Er versucht nicht, die reale Welt möglichst detailliert zu beschreiben, sondern er erschafft eine ästhetische, symbolisch angedeutete Kunstwelt. Die Kunst dient nun also nur sich selber und hat keine äußeren Ziele in der Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft.

Der Symbolismus kann als eine Fortsetzung der Romantik betrachtet werden und wird bisweilen auch als Neo-Romantik bezeichnet. Im Unterschied zur Romantik prägt den Symbolismus aber ein strenges, fast schon klassisches Formbewusstsein.

Merkwürdiges

René Maria Rilke wird während der ersten sieben Jahre bis zu seiner Einschulung als Mädchen gekleidet und erzogen. Nach dem frühen Tod der ersten Tochter sieht die Mutter Sophia in ihm einen Ersatz: »René« ist der »Wiedergeborene«, den sie mit ihrer ganzen Liebe bedenkt und von den anderen Kindern abschottet. In einer von religiösen Ritualen dominierten Kunstwelt »die kleine Renée« auf. Mit 21 verliebt sich Rilke in die 15 Jahre ältere Intellektuelle Lou Andreas Salome. Sie veranlasst ihn dazu, seinen Namen in das ‚männlichereRainer umzuwandeln. Mit ihr verlebt er eine stürmische Affäre. Die Ehe mit ihrem Mann, dem Orientalisten F. C. Andreas, ist sie nur eingegangen unter der Bedingung, dass es zwischen ihnen keinerlei sexuellen Kontakt gibt. So duldet sie seine Beziehung zur Haushälterin und hält sich selber zahlreiche Liebhaber. Nach vier Jahren setzt sie der Beziehung mit dem neurotischen Rilke ein Ende, bleibt ihm aber als »Muse und sorgsame Mutter« (Sigmund Freund) erhalten.

Autor: Rainer Maria Rilke

1875-1926, Prag, Tschechien

Wichtige Werke

  • »Das Stunden-Buch« (Gedichte, 1905)
  • «Neue Gedichte« (Gedichte, 1907)
  • »Die Aufzeichnungen des Malte Laurits Brigge« (Roman, 1910)
  • »Duineser Elegien« (Gedichte, 1923)

Leben

René Maria Rilke wird 1875 in Prag geboren. 1884 lassen sich die Eltern scheiden. Durch das Studium der Kunst- und Literaturgeschichte in Prag und München trifft er wichtige Persönlichkeiten wie den Symbolisten Stefan George oder die Intellektuelle Lou Andreas-Salomé, in die er sich verliebt. Nach einer Russlandreise mit ihr und der Heirat mit der Bildhauerin Clara Westhoff wird ab 1902 Paris sein Lebensmittelpunkt. Hier lernt er den Maler Paul Cezanne und den Bildhauer Auguste Rodin kennen, dessen Sekretär er wird. In der Folge entstehen u.a. seine »Neuen Gedichte« sowie der Roman »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Nach einer längeren Schaffenskrise und dem Weltkrieg, in dem er Mitarbeiter des Wiener Kriegsarchiv ist, reist er in die Schweiz und lässt sich 1921 im Schloss Muzot im Wallis nieder. Hier stirbt er 1926. Sein Schaffen ist von Philosophen, v.a. von Schopenhauer und Nietzsche, beeinflusst. Seine Werke sind oft von bedeutenden Musikern vertont worden.

Werk: »Neue Gedichte« (1907)

Die »Neuen Gedichte« bzw. »Der Neuen Gedichte anderer Teil« ist eine Sammlung relativ kurzer Gedichte, die in Rilkes mittlerer Schaffensperiode entstehen. ‚Neu‘ an ihnen ist ihre subjektive Sachlichkeit, die Konzentration auf einander verwandte Gegenstände, deren ‚Wesen‘ herausgearbeitet wird: ein Alltagsding (»Der Ball«) oder eine Institution (»Das Karussell«), ein Tier (»Der Schwan«) oder eine Pflanze (»Blaue Hortensie«), ein Kunstwerk (»Früher Apollo«) oder ein Bauwerk (»Die Kathedrale«), eine mythische (Odysseus), mittelalterliche (»Gott im Mittelalter«) oder eine biblische Figur (Lazarus). Das populärste dieser Dinggedichte ist »Der Panther«, das die Befindlichkeit eines eingesperrten Panthers nicht nur beschreibt, sondern auch formal umsetzt.

Textstelle I

Der Panther (Im Jardin des Plantes, Paris)

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt. [1]

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, [2]
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht. [3]

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein, [4]
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein. [5]

  1. Die Gitterstäbe, die den Panther einschließen, werden auch lautlich realisiert. Zum einen als offensichtliche Wiederholung (V. 3 und 4), dann als auffälliger Binnenreim (V. 3, »Stäbe«-»gäbe«) und schließlich in Form von Assonanzen auf ä im Reimwort (»hält«, »Welt«).
  2. Charakteristisch für den Symbolismus ist die gehobene, erlesene Sprache und die für ein Gedicht relativ komplexe Syntax (»weiche Gang geschmeidig starker Schritte«, »der Glieder angespannte Stille«).
  3. Durch Vergleiche (V. 3: »ihm ist, als ob«, V. 7: »wie ein Tanz«) und Metaphern (V. 9: »Vorhang der Pupille«) wird um das reale Lebewesen eine allegorische Szenerie entworfen: Der Panther wird zu einem Symbol für etwas, das nicht genannt, nicht bekannt ist.
  4. Im Gedicht kann auch die Ausgangslage symbolistischer Dichtung erkannt werden: Wie für den eingesperrten Panther, für den es »keine Welt« gibt, bleibt für den Symbolisten die prosaische Alltagswelt ausgeschlossen. Überspitzt ausgedrückt: Nur bestimmte Bilder durchdringen den goldenen Käfig des Symbolismus.
  5. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Epochen hält sich die Lyrik des Symbolismus streng an Regeln: Hier ist es ein Kreuzreim mit alternierender Kadenz sowie ein fünfhebiger Jambus. »Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte« in seiner Regelmäßigkeit wird also auch durch die Versfüße realisiert. Das regelmäßige Metrum wird nur durchbrochen im letzten Vers: Durch den fehlenden Jambus soll das Vergessen des »Bildes« aus der Außenwelt dargestellt werden.

Textstelle II

Liebes-Lied

Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie [1]
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen. [2]
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht. [3]
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand? [4]
O süßes Lied. [5]

  1. Noch intensiver als lyrische Texte anderer Epochen suchen symbolistische Gedichte die Übereinstimmung zwischen Inhalt und Form zu verwirklichen: Hier sind es etwa die Enjambements, die in den Versen 1, 2, 4, 5 das Suchen, Tasten, »Hinheben« der Liebenden realisieren.
  2. Charakteristisch für die symbolistische Lyrik ist die strenge Metrik, ein fünfhebiger Jambus, dazu ein Reimschema, das nach dem unruhigen ersten Teil (abcacbc) einen abgerundeten zweiten Teil folgen lässt (ddeffe), der ausschließlich männliche Kadenzen aufweist.
  3. Die Liebe wird nicht konkret, sondern allegorisch-abstrakt als Geigenspiel dargestellt, bei dem zwei Saiten einen harmonischen Ton ergeben.
  4. Die Symbolik des Gedichts wird bewusst offen gestaltet: Mit Fragen und Indefinitpronomen (»irgendwas Verlorenem, an einer fremden stillen Stelle«) wird ein Ort beschworen, der »im Dunkeln« bleibt und von den Lesenden selber definiert werden muss. Fast wörtlich wird hier Hermann Bahrs Flucht »ins Dunkle, Fremde und Versteckte« aufgenommen. Charakteristisch ist dabei der pathetische Grundton des Gedichts, der sich auch in Interjektionen (»ach«, »o«) niederschlägt.
  5. Die metrische Inkonsequenz im Kurzvers ganz am Ende zeigt wieder die Übereinstimmung von Inhalt und Form: Durch den Bezug auf den Titel wird klar, dass das »Liebes-Lied«, das aus dem Zusammenklang der beiden Liebenden entsteht, nicht nur thematisiert, sondern auch sprachlich realisiert wird. Im fehlenden Versende kann dabei das »süße Lied« gehört werden.

Textstelle III

Der Schwan 

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn  [1]
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes. [2]

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen [3]
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen –: [4]

in die Wasser, die in sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehn, Flut um Flut; [5]

während er unendlich still und sicher
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht. [6]

  1. Aus der »Mühsal« des Alltagslebens, in der das Individuum »schwer und wie gebunden« ist, gilt es sich zu befreien. Die Endzeitstimmung der Jahrhundertwende kommt hier anschaulich zum Ausdruck.
  2. Auch dieses Gedicht ist eine groß angelegte Allegorie, in der das Leben des Wasservogels mit dem menschlichen Lebensgang im Dies- und Jenseits verglichen wird.
  3. Wieder verwirklicht das Enjambement das Gesagte: Das »Nichtmehrfassen / jenes Grundes« wird beim Leben zu einer Tatsache, die man am eigenen Leib erlebt.
  4. Noch extremer ist das Enjambement als Sprung von der zweiten in die dritte Strophe. Hier wird – unterstützt durch Gedankenstrich und Doppelpunkt – der Übergang vom Leben in den Tod realisiert.
  5. Während in den ersten beiden Strophen explizit genannt wird, was sie allegorisch darstellen – nämlich die »Mühsal« des Lebens und »das Sterben« –, wird die Bedeutung der letzten Strophe bewusst offen gelassen. So wird nichts ausgesagt über das Weiterleben nach dem Tod.
  6. Charakteristisch für den Symbolismus ist die Stilisierung des an sich alltäglichen Lebewesens, das als ästhetisch vollkommen (»königlich«) dargestellt wird. Durch die Häufung der Konjunktion »und« wird die Ruhe dargestellt.

Weitere Autoren

Stefan George (1868-1933)

Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)

Richard Dehmel (1863-1920)

Charles Baudelaire (1821-1867)

Paul Verlaine (1844-1896)

Weitere Werke

Rainer Maria Rilke: »Das Buch der Bilder« (Gedichte, 1902)

Stefan George: »Algabal« (Gedichte, 1892)

Hugo von Hofmannsthal: Gedichte

Hugo von Hofmannsthal: »Reitergeschichte« (Novelle, 1899)

Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief« (1902, fiktiver Brief des Lord Chandos an Francis Bacon)

Richard Dehmel: »Weib und Welt« (Gedichte, 1901)