Der Autor schreibt ein Buch für uns, in dem er uns die Handlung vermittelt – wir Leserinnen und Leser müssen herausfinden, was der Autor gemeint hat, dann verstehen wir, was das Buch bedeutet. – So wird der Prozess, der sich bei der Produktion und Rezeption von literarischen Werken abspielt, oft dargestellt. In Wirklichkeit ist es ganz anders …
Erzähler ≠ Autor
Zunächst schreibt der Autor zwar tatsächlich ein literarisches Werk. Er selbst kommt aber in diesem Werk nicht vor. Oft erfindet er eine Vermittlungsinstanz, den sogenannten Erzähler, der den Lesenden die Geschichte vermittelt. Diese Erzählinstanz mag gewisse Berührungspunkte zum Autor aufweisen, es handelt sich aber immer um eine fiktive Figur.
So wird Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werthers« eingeleitet von einem Herausgeber: »Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet.« Dieser Herausgeber ist nicht Goethe, sondern eine künstliche Figur, die es in Wirklichkeit ebensowenig gibt wie Werther oder Charlotte.
Bisweilen sehen sich Autoren aus einem bestimmten Grund dazu veranlasst, anonym oder unter einem anderen Namen, einem Pseudonym, zu schreiben. Insbesondere weibliche Schriftstellerinnen mussten in der Vergangenheit zu diesem Trick greifen, um sich im anfänglich männlich dominierten Literaturbetrieb zu behaupten.
So wurde der erste deutschsprachige Roman einer weiblichen Schriftstellerin »Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim« 1771 anonym veröffentlicht und nicht unter dem Namen der Autorin, Sophie von la Roche. Explizit genannt als »Herausgeber« wird lediglich ihr Freund, der männliche Schriftsteller Christoph Martin Wieland.
Andere namhafte Schriftstellerinnen wählten einen männlichen Namen: Ricarda Huch (1864–1947) alias Richard Hugo; Amandine Aurore Lucile Dupin (1804–1876) alias George Sand; Sidonie-Gabrielle Claudine Colette (1873–1954) alias Willy; Mary Ann Evans (1819–1880) alias George Eliot.
»Nimmer verzeihn wird die Welt Erfolge der dichtenden Frau!« (Charlotte Birch-Pfeiffer, 1850)
Bisweilen wählt ein Autor aber auch ein Pseudonym, weil er sich damit vor Verfolgung schützen kann, etwa in einer Diktatur, weil er eine neue Phase in seinem Werk initiieren möchte oder weil er seine Autorschaft verheimlichen will.
Kurt Tucholsky (1890–1935) publizierte gleich unter vier Pseudonymen (Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel), um zu verheimlichen, dass die Artikel seiner Zeitung fast alle von ihm selbst verfasst worden waren. J. K. Rowling wollte mit dem männlichen Pseudonym Robert Galbraith verhindern, dass ihr Kriminalroman von der Harry-Potter-Serie vereinnahmt wird. Und Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772–1801) schrieb unter dem Pseudonym Novalis, weil ihm dieser uralte Name passend erschien für seine romantischen Werke.
Werk ≠ Buch
Autorinnen und Autoren erschaffen Werke – Romane, Novellen, Gedichte, Theaterstücke usw. –, die dann in Form von Büchern gedruckt und von Leserinnen und Lesern gelesen werden. Das physische Erzeugnis nennen wir also »Buch«; das geistige Produkt, mit dem wir uns auseinandersetzen, heißt »Werk« oder eben genauer »Roman«, »Novelle«, »Sonett« usw.
falsch: »Goethe erfindet in seinem Buch Die Leiden des jungen Werthers« einen Erzähler, der als Herausgeber fungiert.«
richtig: »Goethe erfindet in seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers« einen Erzähler, der als Herausgeber fungiert.«
Auch das Wort »Theater« bedeutet nicht das geistige Werk des »Theaterstücks«, mit dem wir uns auseinandersetzen, sondern die Institution, das konkrete physische Gebäude, in dem Theaterstücke aufgeführt werden. Das Publikum sieht sich also ein Theaterstück an, nicht ein Theater.
reale Leserin ≠ implizite Leserin
Autorinnen und Autoren schreiben für Leserinnen und Leser. Allerdings kennen die Schreibenden die Menschen, die ihre Werke lesen, in der Regel gar nicht. Häufig sind sie schon längst tot, wenn ihr Text gelesen wird. Trotzdem haben die Autor/innen beim Schreiben eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung von den Lesenden, für die sie ihre Werke schreiben, sie überlegen sich, wie deren Verstehenshorizont aussieht. So setzen sie bei ihnen stillschweigend ein bestimmtes Wissen voraus, indem sie bestimmte historische Sachverhalte oder gesellschaftliche Werthaltungen nicht erklären. Außerdem verwenden Sie Wörter und Wendungen, die sie als bekannt voraussetzen. Diese besondere Instanz, für die ein Autor schreibt, nennt man den impliziten Leser, die implizite Leserin.
Die Personen dagegen, die das Werk am Ende tatsächlich lesen, sind reale Leser/innen. Im Gegensatz zu der nur vorgestellten Instanz des impliziten Lesers gibt es sie in Fleisch und Blut. Es versteht sich, dass der Abstand zwischen impliziter und realer Leserin unterschiedlich groß sein kann.
Als die Menschen aus Goethes Umfeld seinen Roman lasen, war die Differenz zwischen dem impliziten und dem realen Leser verhältnismäßig gering. Wenn aber wir heute den Werther-Roman lesen, so ist der Unterscheid beträchtlich. So verstehen wir viele Wörter und Redewendungen nicht richtig; wir können bestimmte historische oder literarische Andeutungen nicht auf Anhieb nachvollziehen; schließlich erscheinen uns auch bestimmte Wertvorstellungen, etwa die Rollenaufteilung zwischen Frauen und Männern, nicht vertraut.
Figuren ≠ Personen
Die Personen in literarischen Werken nennen wir Figuren. Es handelt sich um erfundene Menschen, die sich mehr oder weniger so verhalten können wie wirkliche Menschen. Im Gegensatz zu realen Menschen erschließen sie sich uns rein durch den Text.
Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Hauptfigur, der Protagonist, die Protagonistin. Diese Hauptfigur haben oft einen oder mehrere Gegenspieler, gegen den sie sich durchsetzen müssen, die Antagonist/innen. Oft hat die Hauptfigur bestimmte positive Charakterzüge, die sie für die Lesenden zu einer Identifikationsfigur machen. Bisweilen geschieht die Identifikation aber gerade dadurch, dass die Hauptfigur diese Charakterzüge nicht hat. Dann sprechen wir von einem Antihelden, einer Antiheldin. Diese Figuren werden nicht durch ihre Stärke, sondern durch ihre Schwäche zu Identifikationsfiguren.
Das Vorbild für alle Antihelden der Literatur ist Don Quijote von Miguel de Cervantes. Der »Ritter von der traurigen Gestalt« hat zwar die besten Absichten, ein edler Ritter zu sein, erscheint aber in seinem sprichwörtlichen Kampf gegen die Windmühlen lächerlich.
Wie alles andere an ihnen sind auch die Namen der Figuren nicht zufällig. Meist gibt der Name direkt oder indirekt Auskunft über den Charakter einer Figur. Dieses Phänomen nennen wir den sprechenden Namen.
Mehrdeutigkeit ≠ »Was der Autor gemeint hat«
Literarische Werke werden nicht von heute auf morgen geschrieben. Autorinnen und Autoren brauchen lange für die Gestaltung eines Textes. Die Form, die sie ihrem Text am Ende geben, ist verbindlich. Oft ist diese Form nicht eindeutig. Bestimmte Stellen sind mehrdeutig und bedürfen der Interpretation. Diese Mehrdeutigkeit ist keine Schwäche des literarischen Textes, kein Fehler, sondern im Gegenteil ein notwendiger Bestandteil. Wie lässt sich nun aber herausfinden, was der Text »wirklich« bedeutet?
Naheliegend scheint es, die Autor/innen zu befragen, wie eine bestimmte Stelle zu verstehen ist bzw. was sie mit dem Text »gemeint« haben. Dem liegt indessen ein fundamentales Missverständnis zugrunde: Die Autor/innen haben den Text bewusst so und nicht anders gestaltet. Wenn er nicht eindeutig ist, muss dies also der Absicht der Autor/innen entsprechen. Hätten sie etwas Bestimmtes damit »gemeint«, was wir verstehen müssten, hätten sie dies dem Text ohne Weiteres einprägen können. Dass sie darauf verzichten, zeigt, dass sie diese Eindeutigkeit gerade vermeiden wollen. Selten geschieht es auch, dass sie in einem zusätzlichen Text ausdrücken, wie das Werk ihrer Meinung nach zu verstehen ist. Aber auch in diesem Fall ist diese Selbstinterpretation nur ein Teil der Rezeption, nicht des Textes. Die Autor/innen stehen ihren eigenen Texten gegenüber wie wir: Sie sind Leser/innen.
Fiktion ≠ »Wie es in Wirklichkeit ist«
Um herauszufinden, wie eine bestimmte Stelle zu verstehen ist, könnte man die Handlung auch mit der Wirklichkeit vergleichen, die sie darstellt. So wählen Autor/innen bisweilen historische Persönlichkeiten als Protagonisten oder beschrieben tatsächliche Begebenheiten. Bei der Beurteilung der Charaktere und Ereignisse könnten nun historische Fakten herbeigezogen werden. Dies Gleichsetzung von fiktiver und realer Handlung ist jedoch nicht legitim. Wenn Autor/innen reale Personen oder Begebenheiten wiedergeben, so ist nicht relevant, wie die Realität ist, sondern inwiefern die Darstellung von der Realität abweicht. Literarische Werke sind also fiktiv.
Goethes Protagonist Faust etwa lässt sich zwar entfernt auf eine gleichnamige historische Persönlichkeit zurückführen, den Arzt Johann Georg Faust, der im 16. Jahrhundert gelebt hat. Bei der Beurteilung von Fausts Handeln in Goethes Tragödie ist es indessen nicht relevant, wie Faust in Wirklichkeit war, sondern was Goethe aus der Vorlage gemacht hat, wie er seinen Faust gestaltet hat.
Relevant für die Deutung eines Textes ist weder der Autor noch die Wirklichkeit, sondern immer nur der Text selbst.
Stil ≠ Alltagssprache
Literarische Werke sind von einem eigentümlichen Stil geprägt. Dieser Stil unterscheidet sich mehr oder weniger deutlich von der Alltagssprache; nicht selten verstoßen literarische Texte gegen die Gesetze der Alltagssprache. Das Ziel der literarischen Gestaltung besteht darin, bei den Lesenden die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Literarische Texte sind also so geschrieben, dass sie die Lesenden fesseln, eine Wirkung bei ihnen erzielen. Wir gehen entsprechend davon aus, dass ein literarischer Text die bestmögliche Umsetzung seiner selbst ist. Wenn wir also eine Auffälligkeit finden, die sich nicht auf Anhieb erklären lässt, sehen wir das grundsätzlich nicht als »Fehler« des Autors an, sondern überlegen uns, welche mögliche Wirkung damit erzielt wird.